"Den eigenen Stern pflücken"

Wie Kinder durch freies Spielen ihr wahres Potenzial entfalten können
Warum Spielen keine Freizeitbeschäftigung ist, sondern ein Lebensprinzip, das uns die Natur mitgegeben hat, um mit Freude schöpferisch zu sein und wie Kinder und Erwachsene im freien Spiel über ihre eigenen Grenzen hinauswachsen können, erklärt die Montessori- Pädagogin und Autorin Heide Maria Rossak im Gespräch.
“In jedem Menschen schlummern Talente und Potenziale, die erwachen und zur Blüte kommen möchten. Um dies zu verwirklichen, hat uns die Natur mit dem freien Spiel ein wundervolles Werkzeug in die Wiege gelegt”, ist das Motto von Heide Rossaks Arbeit.
Heide Maria Rossak, geb.1967, ist Pädagogin, Bloggerin und Buchautorin und hat am renommierten Emmi-Pikler-Institut in Budapest bei Anna Tardos studiert. Sie hält Vorträge und schreibt Texte zur Kleinkindpädagogik, der autonomen Bewegungsentwicklung und zum freien Spiel. Frau Rossak ist Mutter von drei Kindern.
Frau Rossak, Sie zeigen Wege auf, wie Eltern ihre Kinder in die Eigenständigkeit begleiten können. Was sollten Eltern dabei beachten?
Der Weg in
die Eigenständigkeit ist ein natürliches Entwicklungsprinzip. Jeder
Mensch möchte mündig und autonom sein und es am liebsten sein Leben lang
bleiben.
Wir sollten im Bewusstsein haben, dass ein Kind danach
strebt, selbstständig zu werden und können es von Geburt an dabei
unterstützen, indem wir ihm geeignete Rahmenbedingungen zur Verfügung
stellen, um spielerisch selbst aktiv zu werden.
Am besten funktioniert das frei von konkreten Erwartungen und ohne Druck. Vielmehr geht es darum, den Raum dafür zu öffnen. Dieses Prinzip zieht sich im Grunde durch die gesamte Pädagogik, die ich vertrete, nämlich dem Kind vielfältige, eigenständige Erfahrungen zu ermöglichen, ohne pushen zu müssen – Freiheit ohne Druck. Wir brauchen nichts zu erzwingen. Die Entwicklung läuft von Natur aus hin zur Eigenständigkeit. Jeder Mensch möchte lernen und über sich selbst hinauswachsen.
Selbstständigkeit durch Ermöglichen von echter Kooperation
Begleitung in die Eigenständigkeit hat nicht nur mit Spielen, sondern
ganz viel mit den Alltagshandlungen, insbesondere mit den
Pflegesituationen, also dem Wickeln, Füttern und Ankleiden zu tun. Dies
sind gute Gelegenheiten, dem Kind eine echte Möglichkeit zur Kooperation
zu geben. Das beginnt bereits beim ganz jungen Säugling und bedarf
einer feinfühligen Wahrnehmung dessen minimalster Initiativen. Darin
liegt die hohe Qualität von Eltern, wenn sie genau hinschauen und
erkennen, was das Kind sagen will und was es braucht. Zusätzlich ist es
für das Baby sehr fein, wenn wir ihm ermöglichen, selbst
nachzuvollziehen, was da gerade mit ihm während der Pflege passiert,
indem wir das eigene Tun vorher ankündigen und fortlaufend beschreibend
kommentieren. Wenn wir zum Beispiel dem kleinen Baby am Wickeltisch eine
Weste anziehen, könnten wir sagen: “Ich möchte dir den Ärmel von der
Weste anziehen” und ihm gleichzeitig den Ärmel der Weste zeigen. Wenn
das Kind dazu bereit ist, wird es seine Muskulatur entspannen. Der
Erwachsene nimmt den entspannten Muskeltonus wahr und beginnt erst
danach mit der Tätigkeit des Anziehens. Nach wenigen Augenblicken hält
er inne und wartet ab. Durch das Abwarten gibt er dem Kind die
Möglichkeit zu reagieren und sich an der Handlung zu beteiligen. Das
Kind kann mithelfen und die begonnene Aktivität fortsetzen, indem es
seinen Arm im Inneren des Ärmels ausstreckt. Sind wir zu schnell, ist
die Bewegung des Kindes überflüssig. Darum ist es sinnvoll, das Tempo
rauszunehmen. Mit anderen Worten: Wenn wir Kinder achtsam begleiten
wollen, sollten wir selbst langsamer werden.
Zusammenfassend
kann gesagt werden: Eigenständigkeit ist ein Bedürfnis des Kindes. Auf
dieses Ziel strebt es von sich aus zu. Das brauchen wir eigentlich nur
zulassen. Wir sollten ihm dabei nicht im Wege stehen, andererseits auch
nichts erzwingen. „Selbstständigkeit aus Freude“ ist das beste Motto
dafür.


Wichtig ist also die Haltung der Eltern, die Zeit und Raum geben sollten?
Ja,
ganz genau. Wenn wir dem Kind immer voraus sind, schneller sind, ihm
etwas abnehmen, was es selbst versuchen möchte und ungefragt Lösungen
und Antworten für Herausforderungen anbieten, nehmen wir ihm den Raum,
sich selbst zu spüren, etwas auszuprobieren und dabei seine
Möglichkeiten zu erfahren. Wir dürfen uns ruhig zurücknehmen und dem
Kind Zeit schenken, dahin zu gelangen, wo es hin möchte, ohne sein Ziel
zu kennen. Das ist eine respektvolle innere Haltung, mit der wir das
Kind wirklich unterstützen, in seine eigene Kraft zu kommen. Wir lassen
ihm Zeit und stellen ihm Raum zur Verfügung.
Raum im wörtlichen
Sinn ist ein Ort, an dem es sich geborgen, sicher und gleichzeitig frei
fühlt, wo es ausreichend Platz hat, um sich zu bewegen und sein Spiel
umzusetzen, wo es selbst etwas gestalten kann und Rückzugsmöglichkeit
findet. Dazu ist es oft sinnvoll, dass nicht immer alle Spielsachen
sofort wieder weggeräumt sein müssen. An einem Bauwerk darf vielleicht
mehrere Tage „gearbeitet“, eine Höhle darf nicht nur für ein paar
Stunden bespielt werden.
Womit nehmen wir dem Kind Raum?
Wir
nehmen dem Kind Raum, wenn es sehr viel mit uns unterwegs ist. Viel
Zeit im Kindersitz, während Autofahrten und beim Einkaufen zu
verbringen, raubt Zeit, um in Ruhe zu spielen. Also lieber nur so viel
wie nötig. Betreuungseinrichtungen mit sehr engen Regeln, die wenig
Spielraum und Möglichkeit zum Ortswechsel bieten, können auch hinderlich
sein. Dies liegt allerdings meistens an den Rahmenbedingungen und nicht
am Personal, das oft sehr engagiert ist und Großartiges leistet. Meiner
Meinung nach müsste der Betreuer*innenschlüssel viel höher sein, also
mehr Pädagog*innen pro Kinder. Auch die Bezahlung verdiente eine
Steigerung. Schließlich geht es um das Wertvollste, das wir haben: um
unserer Kinder. Und das meine ich nicht nur persönlich, sondern auch
gesellschaftlich. Die Kinder von heute tragen schließlich in Zukunft die
Verantwortung.
Wie gelingt es, den Raum aufzumachen?
Es
geht um den Raum der eigenen Vorlieben, Interessen, Wünsche und
Bedürfnisse. Als Erwachsene sollten wir keine festen Vorstellungen
haben, wie etwas sein oder funktionieren muss, sondern dem Kind erlauben
und zulassen, sich selbst auf seine Abenteuer einzulassen und dabei
eigene Erfahrungen zu sammeln. Auch Interessen sind individuell,
wenngleich jeder Mensch von seinem Umfeld inspiriert wird. Lieben und
loslassen beinhaltet, dem anderen die Freiheit zu schenken, seinen ganz
persönlichen Vorlieben und Träumen zu folgen.
Um das Kind gut
verstehen zu können, ist es am besten, sich immer wieder zurückzulehnen
und ihm absichtslos zuzuschauen. Es ist eine gute Voraussetzung, um
angemessen reagieren zu können, wenn wir wahrnehmen, wofür sich das Kind
interessiert und was es gerade braucht. Gleichzeitig ist dieses
Zuschauen auch förderlich für die Beziehung zwischen Kind und
Erwachsenem und auch dadurch ein „Raumöffner“ für das kindliche
Auf-Entdeckungsreise-gehen.
Den inneren Raum des Kindes zu achten und freizugeben, was aus ihm wird, das ist weise Lebenskunst. Das bedeutet nicht, dass man das Kind sich selbst überlässt, sondern...
…ihm vertraut?
Vertrauen
ist ein ganz schönes Wort. Wir sind alle aus der Natur hervorgegangen
und bringen einen natürlichen inneren Entwicklungsplan mit auf die Welt.
Wer die Augen dafür offen hat und miterlebt, wie wundervoll sich
Babys und kleine Kinder von sich aus entfalten und auf welch kraftvolle
Art und Weise sie mit Freude jeden Tag Neues lernen, dem fällt es
vermutlich leichter, zu vertrauen. Bei mir war es so. Ich habe durch
meine Kinder, als sie klein waren, Zuversicht und Hingabe ins Leben
gewonnen.
Mit entsprechendem Vertrauen fällt es leichter, keine konkreten Erwartungen und Vorstellungen zu haben, sondern offen zu sein, die Kontrolle aufzugeben und loszulassen. Wenn es gelingt, kann dies als große Bereicherung erlebt werden. Wer sich nicht nur auf eine Lösung fixiert, kann schon morgen mit heute noch ungeahnten Möglichkeiten in Kontakt kommen.

Kann das in der heutigen Zeit noch gelingen? Was sind gute Rahmenbedingungen fürs Spielen?
Die Grundvoraussetzung, damit ein Kind frei spielen kann, ist, dass es sich sicher und geborgen fühlt. Als ich den Neurobiologen Gerald Hüther vor Jahren bei einem Vortrag sagen hörte “Wollen Sie, dass Ihre Kinder klug werden, dann lieben Sie sie“, hat sich das in meinem Herzen sofort völlig stimmig angefühlt. Von den beiden wichtigsten menschlichen Urbedürfnissen nach persönlichem Wachstum und Verbundenheit ist eben das Bedürfnis nach Zugehörigkeit die Voraussetzung für das andere. Nur wenn wir sicher in guten Beziehungen eingebunden sind, fühlen wir uns frei, uns unserem zweiten Urbedürfnis, jenem über sich selbst hinauszuwachsen zu widmen. Das Gefühl von Zugehörigkeit ist das wichtigste für uns Menschen. Ein Kind braucht Bezugspersonen, die ihm wie ein sicherer Hafen Schutz und Geborgenheit bieten. Sie bilden die Basisstation, von der aus es seine Erkundigungen starten und zu der es jederzeit zurückkehren kann, wenn es sich zum Beispiel erschrickt, Angst bekommt oder ein körperliches Bedürfnis gestillt werden möchte. Mir gefällt das Bild vom sicheren Hafen. Dort bin ich jederzeit geborgen. Der Hafen ist immer da, der verschwindet nicht einfach. Er erwartet mich und lässt mich losziehen. Ein bedingungslos geliebtes Kind kann sich mit seinem Boot auf große Fahrt mal in diese Richtung, mal in jene Richtung aufmachen und jederzeit mit seinen Erfahrungen und seinem neu erworbenen Wissen zurückkehren.
Liebe zeigt sich für ein Kind vor allem darin, dass seine Bedürfnisse feinfühlig wahrgenommen und angemessen gestillt werden.
Es ist zusätzlich schön, wenn man die Liebe auch mit Worten ausdrückt
und dem Kind immer wieder sagt “Du bist genau richtig, wie du bist”.
Wenn ein Mensch etwas oft hört, verankern sich diese Botschaften in
seinem Gehirn. Durch die Spiegelneurone wird das Kind zu dem, was ihm
ständig gesagt wird. Es verlangt unser ethisches Gewissen, dieses
Prinzip nicht manipulativ einzusetzen, sondern ehrlichen Herzens. Unsere
Worte sollten nicht nur aufrichtig gemeint sein, sondern sich vor allem
auch in dem bestätigen, was das Kind durch unsere Zuwendungen erlebt.
… sonst stimmen Botschaft und Verhalten nicht überein…
Ja, was wir mitteilen, muss wahrhaftig sein, das ist klar. Das ist das eine. Zusätzlich ist es wichtig, den Bedürfnissen des Kindes Vorrang gegenüber jenen des Erwachsenen zu geben. Es geht nicht, dass der Erwachsene sagt, ich bin jetzt müde, jetzt füttere ich dich nicht. Die Eltern sind von Natur her diejenigen, die geben. Da muss man oft die eigenen Wünsche zurückstecken. Kinder sind nicht unser Besitz, sondern unsere Verantwortung.

Was halten Sie von dem Postulat “Nur wenn es der Mutter gut geht, geht es dem Kind gut”?
Das ist richtig, aber es kann falsch interpretiert werden, nämlich in der Weise, dass die Selbstverwirklichung und die Bedürfnisse des Erwachsenen Vorrang vor jenen des Kindes haben sollten. Und das sehe ich genau umgekehrt.
Wenn es der Mutter schlecht geht, wird sie nicht so gut für das Kind sorgen können. Sie wird dann womöglich gar nicht dazu fähig sein. Wenn sie beispielsweise Depressionen hat, wird es ihr nicht möglich sein, die Bedürfnisse des Kindes angemessen zu stillen. Deswegen sollte die Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass es allen Familienmitgliedern gut gehen kann. Eltern brauchen ein Netz von Erwachsenen, die sie unterstützen. Das Kind soll und darf nicht auf die Eltern schauen und für sie Sorge tragen müssen. Es sollte eine verlässliche Bezugsperson geben, die einspringen und wirklich für das Kind da sein kann, wenn es einem Elternteil nicht gut geht.
Ich finde es wichtig, zu thematisieren, wie viel Mütter jahrelang sieben Tage die Woche leisten und dass wir als Gesellschaft ein Augenmerk auf ihre Bedürfnisse richten. Kindererziehung ist eine altruistische Tätigkeit und leistet Wertvolles für das Gemeinwohl. Das verdient von Politik und Gesellschaft mehr wertgeschätzt und honoriert zu werden.
Ich erlebe bei meinen online Vorträgen so viele junge Eltern, denen es ein Anliegen ist, ihre Kinder mit Achtsamkeit und Empathie ins Leben zu begleiten. Das klingt vielleicht wie ein Tropfen auf den heißen Stein - ist es aber nicht. Was man Gutes in die Herzen der Kinder gepflanzt hat, ist eher wie ein Tropfen, der ins Wasser fällt und weite, fruchtbringende Kreise ziehen wird.
Wie vermitteln Sie das den Eltern, ohne dass diese sich schuldig oder sich belehrt fühlen?
Niemand
soll sich schuldig oder belehrt fühlen. Das ist mir enorm wichtig. Ich
versuche grundsätzlich mit den Eltern wertschätzend zu kommunizieren und
ihnen durch meine eigenen Erfahrungen Mut zu machen und gangbare Wege
aufzuzeigen.
Es ist mir ein Herzensanliegen, Menschen darin zu
unterstützen, dass sie ganz sie selbst werden, dass sie das, was sie als
Potenzial mitgebracht haben, auch entfalten können und ihren Interessen
und Neigungen folgen dürfen. Was ich mir für Kinder wünsche, das
wünsche ich mir genauso für jeden Erwachsenen.
Ich plädiere nicht
für einen Ego-Trip, sondern dafür, die Individualität eines Menschen
wertzuschätzen. Ich nenne es „den eigenen Stern pflücken.“ Die
Einzigartigkeit eines jeden ist wundervoll und soll gelebt werden, auch
wenn sie nicht in die üblichen Muster und Systeme passt, ja sogar dann,
wenn es noch nicht einmal einen passenden Beruf gibt und der erst
erfunden werden muss! Wenn jemand seine Berufung lebt, ist er nicht nur
ein Segen für sich selbst, sondern für alle um ihn herum. Meine Vision
ist, dass wir im besten Fall in einer Welt von einzigartigen kostbaren
Individuen leben, die sich gegenseitig bereichern und miteinander ein
wundervolles, buntes und vielfältiges Ganzes bilden.
Heide Maria Rossak
Wer mehr über Heide Maria Rossak und ihre Aktivitäten erfahren möchte, kann hier weiterlesen:

Buchtipp
Heide Maria Rossak
„Sinnvolles Spielzeug“
Dieses Buch ist ein praktischer Ratgeber für Eltern und Erzieher während der ersten Lebensjahre des Kindes. Mit zahlreichen anschaulichen Bildern und vielen hilfreichen und wunderbaren Tipps für den Alltag. Mit einer Spielzeugliste für die ersten sechs Lebensjahre und detaillierten Angaben zu Bezugsquellen und Literaturempfehlungen.
18 Kapitel
· Gute Rahmenbedingungen fürs Spielen
· Kriterien zur Spielzeugauswahl
· Bewegung - ein Lebensbedürfnis des Kindes
· Maria Montessori und das Sinnesmaterial
· Spielzeugklassiker Puppe
· Vom Aufräumen und Ordnung halten
· Bauen und Konstruieren
· Der Jahreszeitentisch
· Materialien für die vorbereitete Spielumgebung nach Emmi Pikler
· Gärten für Kinder
· …
190 Seiten mit vielen anschaulichen Farbfotos
Zu beziehen direkt bei der Autorin über die Website www.spielendsein.at
oder als e-book über den Renate Götz Verlag (Thalia und amazon)