"Wir verlieren eine ganze Generation"

Am Freitag und Samstag 31.3./1.4. 2017 fand im Bildungszentrum St. Virgil in Salzburg eine Tagung zum Kindeswohl statt. Das Bildungszentrum St. Virgil, idyllisch am Rande von Salzburg gelegen, bietet atemberaubende Ausblicke auf die Berge des Salzburger Landes und wird von einem kompetenten Veranstaltungsteam geleitet, sodass sich die ca. 250 TeilnehmerInnen - ÄrztInnen, TherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, Hebammen etc. - die aus Österreich und Deutschland angereist waren, auf das schwierige Spannungsfeld “Hilfe auf Verlangen und Eingriff in die Familien” sowie auf den Vortrag von Professor Karl Heinz Brisch zu dem Thema “Bindung als Basis Früher Hilfen” einlassen konnten.
Prof.
Brisch ist Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
und leitet die Abteilung Pädiatrische Psychosomatik am Dr.- von
Haunerschen Kinderspital der Uniklinik München und hat mehrere Bücher zu
diesem Thema geschrieben sowie B.A.S.E.®- Babywatching und das
S.A.F.E.®- Programm* ins Leben gerufen.
Seit Oktober 2016 hat Brisch
die Leitung des Instituts für Early Life Care an der Paracelsus
Medizinischen Privatuniversität in Salzburg übernommen; weltweit ein
einzigartiger Lehrgang für die grundlegenden Themen rund um
Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre.
Der
Eröffnungsvortrag von Brisch beruhte unter anderem auch auf seinen
Erkenntnissen zur Bindungsforschung und zur „transgenerationalen
Traumatisierung“.
Er legte die Grundbedürfnisse einer gesunden
Kindesentwicklung dar und zeigte auf, dass nur Kinder, die in sicheren
Bindungen leben und vor negativen Reizen geschützt sind, Neugier,
Forscherdrang und Selbstwirksamkeit ausbilden könnten, was schließlich
Grundvoraussetzungen dafür sind, dass ein Kind lernen und somit
Chancengleichheit erfahren kann.
Die Verarbeitung eigener Kindheitstraumata sieht er als Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung zwischen Eltern und Kind, da es andernfalls aufgrund einer Reinszenierung des Traumas zu Störungen komme.

Angesichts des Ausbaus der Krippenbetreuung in Deutschland wies Brisch erneut auf die dringende Notwendigkeit hin, die Qualität der Betreuung zu erhöhen; er schilderte die dramatischen Ergebnisse der "Nationalen Untersuchung zur Unterbringung von Bildung, Betreuung, Erziehung in der frühen Kindheit" (NUBBEK). Dieser bundesweiten Erhebung zur Folge werden momentan etwa 60 Prozent der Kinder in Kindergärten und über 64 Prozent der Kinder in Krippen „schlecht betreut”. Das bedeutet konkret, dass Babys zum Beispiel beim Füttern mit der Flasche nicht im Arm gehalten werden und Kleinkinder nicht individuell nach Hungerbedürfnis essen können. Insbesondere, so der Kinderspychiater, müsse der Betreuungsschlüssel in Kinderkrippen deutlich verbessert werden, die Ausbildung eigens auf Kleinstkinder ausgerichtet sein, die Erzieher durch gute Arbeitsbedingungen und Supervision und ein würdiges Gehalt unterstützt werden und eine bindungsorientierte Eingewöhnung stattfinden, damit es den Kindern nicht an emotionalem Kontakt fehle.
Leider
fehle es aber den Krankenkassen und der Politik an Interesse, deren
Handlungsweise sei zu kurzsichtig. Tatsächlich fehlten - bis auf die
Landeskrankenkasse - an diesem Abend die Vertreter von Krankenkassen und
Politik. Auch Medien waren - bis auf Spiel und Zukunft - nicht
vertreten. Feinfühligkeit gegenüber dem Nachwuchs sei nicht das Thema,
das unsere Gesellschaft interessiere, konstatierte Brisch anschließend
im Gespräch mit „Spiel und Zukunft". Ein Buch über knallharte
Erziehungsmethoden verkaufe sich da schon besser.
Gefragt nach
der Finanzierung von Frühen Hilfen merkte er an, dass eine solche
Investition in die Früherziehung langfristig Verhaltensauffälligkeiten
vorbeuge, “je früher, je besser”. Er rechnete vor, wie viele Gelder
später aufgewendet werden müssten, wenn ein Kind auffällig geworden sei.
Da meist noch Geschwister in der Familie seien, könnten sich die
Ausgaben der stationären Jugendhilfe beispielsweise bei vier auffällig
gewordenen Kindern in einer Familie leicht auf 32.000 Euro monatlich
belaufen. Brisch zeigte sich überzeugt davon, dass wir nur einen
Bruchteil des Geldes für eine optimale Kinderbetreuung bzw. Frühe Hilfen
aufbringen müssten, um vielen Kindern jahrelanges Leid zu ersparen bzw.
dem Staat und den Krankenkassen sehr viel Geld.

Brisch sprach offen von der “schlechten Versorgung” unserer Kleinkinder. Dies, so der Kinderpsychiater, komme nicht nur in sozial schwachen Familien vor, sondern ziehe sich durch alle Bildungs- und Einkommensschichten. Kinder, die zum Beispiel vernachlässigt werden, weil die Eltern selbst in prekären Verhältnissen leben, befänden sich ebenso in seiner Klinikabteilung wie Kinder, die durch häufigen Wechsel von Au-Pairs in der Familie traumatisiert seien. Auch bei den Kindern, die gegenwärtig in Krippen und Kindertagesstätten nicht ihren Bedürfnissen nach betreut werden, müssen wir nach Brisch in Zukunft mit massiven Verhaltensauffälligkeiten rechnen, die durch Bindungsstörungen entstehen. Es scheint, als sei vielen Eltern der Bezug zur Fürsorge der eigenen Kinder verloren gegangen. Seiner Einschätzung nach sind wir “gerade im Begriff, eine ganze Generation von Kindern zu verlieren”.
Trotz
der ernüchternden Bilanz sicherte an diesem Abend immerhin ein
Vertreter der Landeskrankenkasse Unterstützung zu, und die Kinder- und
Jugendanwältin Andrea Holtz-Darenstaedt rief dazu auf, die bereits
existierenden Rechtsansprüche auszuschöpfen.
Die
TeilnehmerInnen (vorwiegend fachkundige Sozialarbeiter) bestätigten
vielfach Brischs Fazit. Sie berichteten aus ihrer täglichen Arbeit und
zeigten, dass beispielsweise Projekte wie Birdi und PEPP Familien
schnelle und nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Dass es sehr wohl
auch anders geht, legte auch Uwe Sandvoss dar, der als
Präventionsbeauftragter der Stadt Dormagen ein Vorzeigemodell für rasche
Ersthilfe entwickelt hat.
Insgesamt jedoch entstand ein schockierendes Bild davon, wie unsere Gesellschaft gegenwärtig mit ihren schwächsten Mitgliedern, den Kindern und deren Müttern, umgeht.
*S.A.F.E. ® - steht für „Sichere Ausbildung für Eltern“ und ist eine Fortbildung, die sich an alle Eltern richtet, die mehr über die Bedürfnisse von Kindern und einen guten Umgang mit ihnen lernen möchten.
Hier finden Sie vier interessante Interviews mit Karl Heinz Brisch:
Eine sichere Bindung - Warum sie für die Kindesentwicklung so wichtig ist
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Bei den Eltern oder allein schlafen? Was ist besser für Kinder?
Babysitter, Au pair, Tagesmutter, Krippe - wo Kleinkinder am besten aufgehoben sind und wie man Trennungen stressfrei gestaltet.