Margarete Ostheimer GmbH
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„Damit ein Kind sich gut entwickeln kann, beziehungsfreudig, neugierig und motorisch aktiv ist, braucht es gewisse Voraussetzungen. Eine innere Voraussetzung bringt das Kind mit: Es will sich entwickeln. Es hat einen inneren Drang, zu wachsen und sich Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen. Wenn es einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht hat, will es nach Gegenständen greifen, sich fortbewegen und sich sprachlich ausdrücken.
Eltern müssen sich nicht ständig aktiv bemühen, damit das Kind Fortschritte macht. Es braucht nicht ‚gefördert’ zu werden. Das Kind entwickelt sich aus sich heraus, wenn körperliches und psychisches Wohlbefinden gewährleistet sind“, sagt Professor Dr. Remo Largo.
Dr. Remo H. Largo, Jahrgang 1943, studierte Medizin an der Universität Zürich und Entwicklungspädiatrie an der University of California in Los Angeles. Fast 30 Jahre lang leitete der mittlerweile emeritierte Professor die Abteilung „Wachstum und Entwicklung“ am Kinderspital Zürich. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten sowie Bücher über die kindliche Entwicklung veröffentlicht. Sein Buch „Babyjahre“ entwickelte sich ebenso wie die Titel „Kinderjahre“, „Schülerjahre“ und „Lernen geht anders“ zu international bekannten Bestsellern. Der Vater von drei Töchtern und Großvater von vier Enkelkindern lebt in Uetliburg in der Nähe von Zürich.
In der zweiten Hälfte ihres ersten Lebensjahres werfen Babys mit Vorliebe immer wieder Gegenstände auf den Boden. Warum ist das so typisch für diese Spielphase?
Dazu ein Beispiel: Hanna, zehn Monate, sitzt in ihrem Hochstühlchen. Ihre Mutter, die gerade die Küche aufräumt, gibt der Kleinen einen Holzlöffel, einen Schneebesen und eine kleine Plastikschüssel. Freudig greift Hanna nach den interessanten Gegenständen. Sie hämmert mit ihnen auf dem Tisch herum, schlägt sie gegeneinander und wirft sie schließlich zu Boden – immer und immer wieder. Nach dem vierten Mal Bücken reagiert die Mutter leicht genervt und ignoriert einen kurzen Augenblick Hannas Quengeln. Alle Eltern kennen solche Situationen. Sie finden dieses Spiel nicht konstruktiv und reagieren darauf – je nach Lust und Laune – gelassen oder genervt. Doch für Kinder ist dieses Spiel wichtig. Die kleine Hanna wirft die Dinge nicht aus Zeitvertreib zu Boden. Durch ihr Spiel macht sie Erfahrungen, die sinnvoll sind: Indem sie die Gegenstände auf den Tisch und gegeneinander schlägt, lernt Hanna deren physikalische Eigenschaften kennen. Sie spürt, wie schwer ein Gegenstand ist, was für eine Größe, Form und Härte er hat.
Sie erfährt, dass Holzlöffel, Schneebesen und Plastikschüssel unterschiedliche Geräusche machen, wenn sie diese gegeneinander schlägt und zu Boden wirft. Eine einmalige Erfahrung genügt dabei nicht. Das Kind muss die Gegenstände viele Male auf den Tisch schlagen und zu Boden werfen, bis es erfasst hat, welche Materialien, welche Eigenschaften haben und wie sie sich voneinander unterscheiden. Im Alter von neun Monaten entwickelt sich die Merkfähigkeit. Die kleine Hanna weiß seit kurzem: Wenn ein Gegenstand aus ihrem Blickfeld verschwindet, gibt es ihn immer noch.
Um die Richtigkeit ihrer Erinnerung zu überprüfen, muss ihr die Mutter die Dinge unter dem Tisch hervorholen. Und dies nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder. Schließlich hat das Spiel für Hanna auch einen sozialen Aspekt. Sie möchte die Mutter in ihre Aktivitäten mit einbeziehen. Sie soll mitspielen. Dass die Mutter die Küche aufräumen möchte, kümmert die Kleine nicht.
Ist es gut, wenn Eltern sich immer wieder vor Augen führen, wo ihr Kind gerade in seiner Spielentwicklung steht?
Auf jeden Fall. Am gerade erzählten Beispiel von Hanna erkennen wir: Das Spiel ist für ein Kind sinnvoll, auch wenn es auf uns Erwachsene oftmals einen aggressiven, quenglerischen oder sonst irgendwie negativen Eindruck macht. Wir verstehen nun besser, was Hanna mit ihrem Spiel will. Das Verstehen hilft uns, unsere negativen Gefühle zu überwinden und das Spiel von Hanna nicht mehr als destruktiv anzusehen. Wir können uns Gedanken machen, welche anderen Gegenstände in unserem Alltag neben den Küchengeräten als Spielsachen geeignet wären. Und dann stellen wir überrascht fest, dass wir den Begriff „Spielsachen“ stark erweitert haben. Spielsachen sind nicht nur Dinge, die wir im Spielwarenladen einkaufen, sondern aus der Sicht des Kindes alle Gegenstände, die sich zum Spielen eignen. Ein besseres Verständnis für das kindliche Spiel hilft uns, unsere Rolle als Spielpartner besser zu verstehen. Eine vermehrte Wertschätzung des kindlichen Spielverhaltens kann schließlich auch dazu beitragen, dass wir unsere Kinder in ihrem Spiel weniger behindern oder ihr Spiel gar unterbinden, weil wir dessen Sinn nicht zu erkennen vermögen.
Unter Eltern entsteht oft ein Wettstreit darum, welches Kind zuerst krabbeln und ein Auto über den Boden schieben kann. Oder welches Kind zuerst einen Wagen an einer Schnur hinter sich herzieht. Was raten Sie solchen Müttern und Vätern?
Eltern sollten sich von den zahlreichen Berichten in einschlägigen Elternzeitschriften oder Elternratgebern nicht verunsichern lassen. Sie sollten ebenso wenig der Versuchung unterliegen, ihr Kind mit einem gleichaltrigen zu vergleichen. Die motorische Entwicklung ist überwiegend ein Reifungsprozess, der nach inneren Gesetzmäßigkeiten abläuft. Eltern können die Ausreifung motorischer Funktionen bei ihrem Kind nicht beeinflussen. Ob ein Kind bereits mit zehn Monaten oder erst mit 17 Monaten die ersten Schritte macht, hängt im wesentlich davon ab, wie rasch diese Funktion ausreift. Auch fleißigstes Üben vermag diesen Reifungsprozess nicht zu beschleunigen. Die Reihenfolge einzelner motorischer Entwicklungsschritte ist ebenfalls kein Gradmesser. Die meisten Kinder krabbeln. Aber es gibt auch Kinder, die das nie tun. Sie stehen auf und gehen. Oder sie rutschen auf dem Hosenboden herum, bis sie frei gehen können.
Beides ist normal und hat keinerlei Auswirkungen auf die späteren Schulleistungen eines Kindes.
Eltern können die Entwicklung ihres Kindes also in Ruhe abwarten und beobachten?
Ja, denn Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Ein plausibles Beispiel: Die frühe Motorik besteht überwiegend aus angeborenen Verhaltensmustern. Das Kind kriecht, ohne dass die Eltern ihm diese Art der Fortbewegung je vorgemacht hätten. Es übt sie spielerisch ein. Wenn es die ersten Schritte macht, erprobt es diese neue Möglichkeit, sich fortzubewegen. Das Greifen zwischen den Fingerkuppen von Zeigefinger und Daumen, den so genannten Pinzettengriff, übt das Kind ebenfalls spielerisch ein, indem es einige Zeit mit großem Eifer kleine und kleinste Gegenstände wie Brotkrümel und Fäden vom Boden aufklaubt. Im ersten Lebensjahr lernen die Kinder Gegenstände kennen, mit denen sie im Alltag in Berührung kommen. Sie machen ihre Erfahrungen anfangs weit weniger über die Augen als vielmehr über den Mund und die Hände. Sie nehmen die Gegenstände in den Mund, betasten sie mit Lippen und Zunge, drehen und wenden sie in den Händen und schlagen sie auf die Unterlage. Auch dies sind Verhaltensweisen, die Kinder selbst hervorbringen und nicht durch Nachahmung erwerben. Eltern würde es nie einfallen, ihrem Säugling vorzumachen, dass man einen Gegenstand kennen lernen kann, indem man ihn in de Mund nimmt. Das orale und manuelle Erkunden wird über Monate spielerisch auf alle Gegenstände angewendet, denen das Kind habhaft werden kann. Erst gegen Ende des ersten Lebensjahres wird das Betrachten der Gegenstände die hauptsächliche Form des Erkundens. Über den Mund, die Hände und die Augen lernen die Kinder die Gegenstände aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften wie Größe, Form und Gewicht kennen und voneinander zu unterscheiden.
Kinder lernen aber doch auch durch Nachahmung. In welchem Zeitraum tun sie das?
In der menschlichen Gesellschaft sind die Beziehungsstrukturen, Kommunikationsformen und Kulturtechniken so komplex geworden, dass das Menschenkind zehn bis 20 Jahre braucht, um die wesentlichen Verhaltensweisen durch Nachahmung zu erwerben. Ein ausgeprägtes Bedürfnis des Kindes nach Nachahmung spielt dabei eine entscheidende Rolle, und hier braucht es Vorbilder. Eine besondere Rolle spielt die Nachahmung in der frühen Sprachentwicklung. Im ersten Lebensjahr beginnt das Kind Laute nachzuahmen, die es in der Familie hört. Seine lautlichen Äußerungen passen sich im ersten Lebensjahr immer mehr seiner sprachlichen Umwelt an.
Im zweiten Lebensjahr ahmt es in einem Spiel die Sprechweise der Eltern, Geschwister und anderer vertrauter Personen nach. Es spricht ins Spieltelefon wie die Mutter oder belehrt den Teddybären wie das ältere Geschwister. Gegen Ende des ersten Lebensjahres fängt das Kind an, einfache Handlungen wie Adieu-Winken oder In-die-Hände-Klatschen nachzuahmen. In den folgenden Monaten lernt es über die Nachahmung, Gegenstände ihrer Funktion entsprechend zu gebrauchen. Es versucht mit dem Löffel zu essen oder fährt sich mit der Haarbürste über den Kopf.
Spielen alle Kinder gleich?
Eltern, die mehrere Kinder haben, beobachten Unterschiede im Spielverhalten ihrer Kinder. So beginnt ein bestimmtes Kind bereits mit acht Monaten, Gegenstände aufmerksam zu betrachten, während ein anderes Kind dies erst mit zehn Monaten tut. Ein bestimmtes Spielverhalten tritt nicht nur in unterschiedlichem Alter auf. Es ist auch von Kind zu Kind verschieden stark ausgeprägt. So nehmen alle Kinder Gegenstände in den Mund, aber die einen mehr, die anderen weniger. Das eine Kind räumt über Wochen hinweg Schubladen ein und aus, während ein anderes diese Aktivität bereits nach wenigen Tagen satt hat.
Welche wichtigsten Zusammenhänge haben Sie im Rahmen Ihrer Jahrzehnte langen Beobachtungen bei der Entwicklung des kindlichen Spiels herausgefunden?
Ergebnis von Beobachtungen und Studien war unter anderen: Das Spiel drückt den Entwicklungsstand eines Kindes aus. Und die Abfolge des Spielverhaltens ist bei allen Kindern gleich. So räumt jedes Kind Anfang des zweiten Lebensjahres Behälter ein und aus. Mit etwa anderthalb Jahren baut es einen Turm und gegen Ende des zweiten Lebensjahres einen Zug. Wir haben bei mehreren hundert Kindern immer die gleichen Abfolgen des Spielverhaltens beobachtet. Weiter haben wir herausgefunden, dass sich bei allen Kindern in unterschiedlichen Kulturen typische Verhaltensweisen beim Spielen finden. Natürlich gibt es kulturell bedingte Unterschiede. Während ein Kind in Europa fürs Einfüllen und Ausschütten Plastikbecher und Sand benützt, gebraucht ein afrikanisches Kind Tongefäße und Erde oder ein balinesisches ausgehöhlte Kürbisse und Kerne. Der Inhalt des Spiels wird durch den gesetzmäßigen Ablauf der geistigen Entwicklung bestimmt. Der Ausdruck des Spiels aber ist Zeit- und Kultur gebunden und damit verschieden von Generation zu Generation und von Gesellschaft zu Gesellschaft. Eine weitere Erkenntnis: Das Kind will und muss in seinem Spiel bestimmend sein. Es braucht die Kontrolle über seine Aktivität, damit es daran interessiert bleibt und das Spiel zu einer sinnvollen Erfahrung wird. Und: Das Kind hat ein angeborenes Interesse am Spiel. Auch wenn es mit großen Ernst dabei ist, spüren wir als Beobachter: Es spielt gerne und ist interessiert an dem, was es tut. Das Kind ist immer gefühlsmäßig an seinem Spiel beteiligt.
Die Kontrolle sowie die interessierte und lustbetonte Ausführung unterscheiden das kindliche Spiel grundsätzlich von jenem Lernprozess, dem wir Erwachsene unberechtigterweise so große Bedeutung beimessen: dem Einüben oder Trainieren von Fertigkeiten. Im Gegensatz zum Spiel kann das Üben einer bestimmten Tätigkeit dem Kind aufgezwungen werden und geht oft ohne seine innere Beteiligung einher. Wenn es spielerisch lernt, mit dem Löffel zu essen, wird es diese Fertigkeit als eine eigene Willensäußerung verinnerlichen. Wenn die Eltern dem Kind beibringen, wie es mit dem Löffel zu essen hat, wird das Essen zu einer Handlung, die das Kind nicht als etwas Eigenes empfindet. Antrainiert kann das Essen selbst nach Jahren für das Kind immer noch ein Vorgang sein, der nicht seinem eigenen Bedürfnis entspringt, sondern von den Eltern gewollt und durch die Eltern kontrolliert wird. Dass ein solches anerzogenes Essverhalten zu Essstörungen führen kann, erstaunt nicht.
Herr Dr. Largo, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Jette Lindholm für unsere Redaktion.
Remo H. Largo: Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren
Der erfahrene Kinderarzt Remo H. Largo hat mit seinem vollständig überarbeiteten Standardwerk ein Erziehungsbuch ganz anderer Art geschrieben: Er geht nicht von einer idealen Entwicklung oder festen Erziehungsprinzipien aus, sondern sieht das Kind so, wie es ist. Vor allem will er bei Eltern und Erziehern Verständnis wecken für die biologischen Voraussetzungen und die Vielfalt kindlichen Verhaltens. Dieses Buch ist ein Muss für Eltern.
592 Seiten, 14,95 Euro, Piper Verlag, München
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