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Eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist davon abhängig, wie feinfühlig man mit Babys und Kleinkindern umgeht, sagt der Münchner Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch.
Was Eltern für eine sichere Bindung zu ihren Kindern tun können und welche positiven Auswirkungen sie auf unser ganzes Leben hat, erklärt Dr. Brisch im Interview.
Ein Gespräch mit Karl Heinz Brisch
„Eine sichere Bindung ist ein psychischer Schutz und ein stabiles Fundament für eine gute Persönlichkeitsentwicklung. Sicher gebundene Kinder sind widerstandsfähiger gegen Belastungen, haben mehr Bewältigungsmöglichkeiten, leben eher in freundschaftlichen Beziehungen, sind häufiger in Gruppen, verhalten sich in Konflikten sozialer, weniger aggressiv und finden Lösungen, die ihnen weiter helfen. Sie sind kreativer, flexibler, ausdauernder und ihre Lern- und Merkfähigkeiten, also ihr Gedächtnis ebenso wie ihre Sprachentwicklung, sind besser als die von unsicher gebundenen Kindern“, sagt der Münchner Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch.
Karl Heinz Brisch, Dr. med. habil., Privatdozent, ist Facharzt für Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin, Nervenheilkunde und Psychoanalyse. Er leitet als Oberarzt die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Hauner’schen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist Autor verschiedener Bücher zur Bindungsforschung und war viele Jahre lang für Deutschland Vorsitzender in der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit (GAIMH).
Was ist überhaupt Bindung?
Wenn unser Start ins Leben gelungen ist, haben wir hoffentlich Bindungsbeziehungen zu geliebten Menschen, denen wir uns in Raum und Zeit verbunden fühlen, obwohl diese gar nicht in unserer Nähe sind. Nach diesen Menschen sehnen wir uns, wenn wir sie am Telefon hören, jedoch nicht in die Arme nehmen können. Nach ihnen ergreift uns Heimweh, wenn wir von ihnen getrennt sind.
Diese Menschen sind unser sicherer emotionaler Hafen, bei ihnen fühlen wir uns wohl und geborgen. Sie sind nicht beliebig zu ersetzen. Daher lassen sich Säuglinge und Kinder in ihren ersten Lebensjahren, wenn sie ihre Eltern oder Bindungsperson vermissen, nicht einfach von einer Babysitterin oder Tagesmutter trösten, mag diese auch eine noch so wunderbare Person sein.
Was sind die lebenswichtigen Bedürfnisse eines Säuglings?
Damit Säuglinge gesund aufwachsen, brauchen sie genug Nahrung, genügend Schlaf, ein Dach über dem Kopf und gute Luft. Das wichtigste Bedürfnis ist es jedoch, von Geburt an eine feste Bindung zu einem Menschen zu haben, der dem Kind Schutz und Sicherheit gibt und sich um es kümmert, wenn es weint.
Was brauchen Säuglinge und Kinder, um die Welt kennenzulernen?
Da Kinder Liebe brauchen und von Anfang kleine Welterkunder sind, dürfen sie nicht sich alleine im Bettchen überlassen werden und brauchen die Möglichkeit, ihrem Forschungstrieb nachgehen zu können.
Säuglinge wollen fühlen, riechen, schmecken, hören, und zwar mit all ihren Sinnen. Sie wollen die Welt möglichst umfassend erleben, und müssen daher all ihre Spielzeuge ertasten, erfühlen, beschnuppern, an ihnen riechen, sie belecken und sie sogar ganz in den Mund nehmen. Für Kleinkinder ist es überaus wichtig, dass sie ihrem Bewegungsdrang nachgeben und mit ihren Spielzeugen alle Sinne erfahren können. Das bedeutet nicht, dass Kinder Spielzeug brauchen, das knallbunt ist und auf Knopfdruck blinkt und lärmt - im Gegenteil, Kinder brauchen einfache Spielzeuge, mit denen sie sich langsam und behutsam mit der Umwelt vertraut machen und im Wortsinne die Welt ergreifen können.
Was sollten wir bei Säuglingen vermeiden?
Säuglinge sollte man keinen unangenehmen Reizen wie lauten Geräuschen oder dröhnender Musik, Kälte oder Wärme, blendendem Licht, stickiger Luft oder großen Menschenmengen aussetzen. Auf keinen Fall darf man Babys Schmerzen zufügen. Säuglinge und Kinder geben Signale, wenn ihnen etwas zuviel wird. Wenn sie noch klein sind, machen sie Abwehrbewegungen, wenden sich weg, weinen, protestieren laut und demonstrativ oder halten sich die Ohren zu. Schon Säuglinge versuchen, sobald sie es können, den Körper abzuwenden, oder sie drehen ganz klar den Kopf weg, um sich zu schützen.
Worauf sollten wir bei Kindern noch achten?
Kinder möchten selbstwirksam sein, das heißt, sie wollen ohne Zutun, aber vom liebevollen Blick der Eltern begleitet ausprobieren, was sie schon selbst können. Dabei ist es in allen Alterstufen wichtig, dass sie das Gefühl erleben, selbst etwas bewirkt und auf den Weg gebracht zu haben. Den letzten Bauklotz beim Turmbau auf die Spitze gefügt zu haben und dabei den eigenen Stolz über das Vollbrachte in dem anerkennenden Strahlen der Eltern gespiegelt zu bekommen, ist für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls von ganz großer Bedeutung.
Sie sagen, dass eine sichere Bindung das stabile Fundament der Persönlichkeit ist. Könnten Sie das ausführen?
Die sichere emotionale Bindung eines Kindes an seine Eltern ist für sein Überleben und ein positives Lebensgefühl so grundlegend wie Nahrung oder Luft zum Atmen. Ein Kind, das in der Nähe der Eltern ist, spürt Sicherheit und Freude. Wenn es von den Eltern getrennt wird, erlebt es Angst. Wird diese Angst vor dem Verlassensein für Babys oder Kinder zu groß, stehen sie unter Stress. Wenn die Angst nicht mehr zu bewältigen ist, kommt es zu nachhaltigen Schädigungen, einem so genannten Trauma. Durch körperliche Nähe kann man ein Kind beruhigen. Babys merken sich die Person, die sich um sie kümmert und sie tröstet. Durch solche emotionalen Erfahrungen entsteht Bindung, nicht etwa durch genetische Verwandtschaft.
Sie sagen „Bindung vor Bildung“. Was meinen Sie damit?
Nur wenn das kindliche Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit erfüllt ist, kann ein Kind frei spielen und ruhig seine Umwelt erforschen. Sicher gebundene Kinder sind ins Spiel vertieft, sie suchen ab und zu den Blick der Mutter, um sich zu vergewissern, dass sie noch da ist. Manchmal laufen sie hin, lassen sich kurz umarmen oder zeigen ihr etwas, um sich dann wieder ganz dem Spiel zu widmen.
Kinder, deren Bedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt ist, können sich nicht so vertieft und kreativ auf ein Spiel einlassen. Ihr Stresserleben ist hoch, ihr Körper und ihre Seele sind so sehr damit beschäftigt, diese für sie schwierige Situation auszuhalten, dass sie kaum etwas verinnerlichen können. Damit Kinder also bei ihren Eltern, in der Krippe, im Kindergarten oder in der Schule das Erlebte verarbeiten, Bildungsangebote annehmen oder lernen können, müssen sie sich emotional sicher fühlen. Dies bedeutet auch, dass sie eine sichere Bindung zu ihrer Erzieherin brauchen, bevor sie neue Angebote aufnehmen können. Daher gilt der Spruch „Bindung kommt vor Bildung“.
Wie entsteht eine sichere Bindung?
Zunächst ist da die Feinfühligkeit zu nennen. Kinder binden sich an diejenige Person, die meistens zur Stelle ist und am feinfühligsten auf ihre Bedürfnisse reagiert. Das ist oftmals die Mutter, es kann auch ebenso der Vater oder eine andere Person sein. Diese muss es verstehen, die Signale des Kindes richtig zu interpretieren. Im Laufe des ersten Lebensjahres entwickeln Kinder idealerweise eine Bindung an eine zweite und auch weitere Personen, von denen sie sich trösten lassen. Ein Netzwerk von bis zu drei bis vier Bindungspersonen können die Säuglinge schon überblicken. Dabei können wir oft eine kleine „Bindungshierarchie“ beobachten. Sie haben ihre absolut bevorzugte Bindungsperson, die am besten und schnellsten trösten kann; alle anderen folgen nach und werden auch zur Sicherheit von ihnen aufgesucht, wenn ihre beste Bindungsperson gerade nicht zur Verfügung ist. An zweiter oder dritter Stelle zu stehen bedeutet, dass diese Bindungsperson auch trösten kann, aber das Baby sich nicht so schnell und gut beruhigen lässt.
Warum weinen Babys?
Weinen kann so vieles bedeuten: Hunger, Durst, Langeweile, Angst, Wut, Schmerzen, eine volle Windel, Babys weinen, weil es ihnen zu kalt oder zu warm ist oder weil die Eltern sich streiten. Wenn ein Säugling aus Hunger weint, muss er gefüttert werden, weint er wegen Schmerzen, muss man ihn trösten, ist ihm langweilig, muss man ihn anregen, ein paar Schritte mit ihm gehen, ihm die Umgebung zeigen oder kleine Berührungsspiele mit ihm machen.
Manchmal kann man gar nicht herausfinden, warum ein Säugling weint, auch dann sollte man ihn nicht allein lassen, sondern in Körperkontakt bleiben. Erst Tage später stellt sich manchmal der Grund heraus: ein neuer Zahn erscheint oder ein fiebriger Infekt bricht aus.
Bei Weinen stets zu reagieren ist die eine Sache: Was trägt noch zu einer sicheren Bindung bei?
Eine sichere Bindung wird auch dadurch gefördert, dass Eltern viel mit ihrem Kind sprechen und hierbei bereits kleine Zwiegespräche entstehen. Das Baby sieht die Mutter an und plappert vor sich hin. Die Mutter nimmt die undeutlichen Laute und sein „Gurren“ freudig auf und „übersetzt“ sie, möglichst ohne eigene Interpretation. „Ja, das ist aber schön, dass du mit mir sprichst, was sagst du denn, gefällt dir das ..., magst du das ...“ Natürlich weiß man nicht von Anfang an, was die Babys meinen, doch je mehr man sich zuwendet, desto besser lernen sich beide kennen und desto sicherer wird die Bindung. Vermeiden sollte man ein zu schnelles übermäßiges Reagieren auf die kleinste Lautäußerung, wenn das Baby noch gar keinen Stress zeigt, das kann Säuglinge erschrecken und sie könnten ziehen sich zurück. Neben dem innigen Zwiegespräch, ist es wichtig, dass man den Blickkontakt zum Baby sucht und hält, um über die Mimik seine Gefühle und Stimmungen zu erkennen.
Welche Bedeutung spielt die Berührung in diesem Zusammenhang?
Der Körperkontakt zwischen der Mutter und dem Säugling ist enorm wichtig. Je körpernaher der Austausch ist, desto feinfühliger muss dies geschehen. Es ist wichtig wahrzunehmen, was das Baby möchte. Streckt es die Ärmchen aus und möchte mehr, oder wendet es das Köpfchen ab oder dreht gar den ganzen Körper weg, möchte es in Ruhe gelassen werden? Will es beispielsweise nicht massiert werden, nimmt ein Kind die Hände der Bindungsperson und hindert sie. Eine Babymassage ist in vielen Ländern üblich und trägt sicherlich zu einer sichern Bindung bei, wenn sie feinfühlig ausgeführt wird. Auch viele traditionelle Kose- und Berührungsspiele regen das Baby an und machen es glücklich. Denn dabei wird Oxytozin ausgeschüttet, das Bindungshormon, das uns ein Gefühl der Vertrautheit mit einem nahen Menschen vermittelt und das man auch das „Kuschelhormon“ nennt.
Nach wie vor erhalten Eltern den Rat, ihr Kind im Kinderzimmer brüllen zu lassen, bis es vor Erschöpfung einschläft. Was sagen Sie dazu?
Babys wollen grundsätzlich nicht alleine in einem Zimmer schlafen, und dies ist von der Evolution auch nicht so vorgesehen. In den allermeisten Kulturen der Welt schlafen Babys und Kleinkinder in der Nähe der Mutter. Nur in westlich orientierten Kulturen wird von Säuglingen erwartet, dass sie alleine schlafen. Kleine Kinder in einem anderen Zimmer als dem Elt ernschlafzimmer unterzubringen, sehen beispielsweise Indonesier als eine Form der Kindesvernachlässigung an.
Sind Kinder noch nicht groß genug, um selbständig aus ihrem Bett zu kommen, so stehen sie oft weinend und mit ausgestreckten Ärmchen im Gitterbettchen. Man sollte sie dann unbedingt hochnehmen. Sie klammern sich an die Eltern, denn dort ist zweifelsohne der sicherste Ort, wo sie verständlicherweise sein wollen. Weint ein Kind, fühlt es sich hilflos und alleine. Wenn dann niemand kommt, um zu helfen, ist der Stress groß, und das Kind macht die Erfahrung, dass es sich in der Not auf niemanden verlassen kann. Man stelle sich einfach vor, man wäre als Erwachsener in einer Klinik, wacht mit Schmerzen und Angst auf und niemand käme. Wie verloren muss sich ein kleines Kind erst fühlen? Die meisten Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder solche Erfahrungen machen, sie möchten ihrem Kind ein Gefühl von Urvertrauen vermitteln.
Außerdem: Die Ergebnisse von Studien zeigen, dass die Kinder von Müttern, die gleich auf das Weinen von Kindern reagieren und ins Zimmer gehen, um es zu trösten oder mitzunehmen, auf lange Sicht gesehen besser schlafen. Denn sie haben die beruhigende Erfahrung gemacht, dass die Eltern – selbst in tiefer Nacht – auf ihr Signal hin, kommen. Da sie diese Sicherheit haben, müssen sie es nicht immer wieder testen. Zudem gibt es Untersuchungen, die belegen, dass der plötzliche Kindstod seltener auftritt, wenn Kinder mit den Eltern im gleichen Zimmer schlafen.
Was sind die Vorteile einer sicheren Bindung?
Eine sichere Bindung ist ein psychischer Schutz und ein stabiles Fundament für eine gute Persönlichkeitsentwicklung und ein positives Lebensgefühl. Sicher gebundene Kinder sind widerstandsfähiger gegen Belastungen, haben mehr Bewältigungsmöglichkeiten, leben eher in freundschaftlichen Beziehungen, sind häufiger in Gruppen, verhalten sich in Konflikten sozialer, weniger aggressiv und finden Lösungen, die ihnen weiter helfen. Sie sind kreativer, flexibler, ausdauernder, und ihre Lern- und Merkfähigkeiten, also ihr Gedächtnis, sind besser, ebenso wie ihre Sprachentwicklung. Bindungssichere Kinder haben bereits im Kindergartenalter eine bessere Einfühlung in ihre Spielkameraden, denn sie haben von der Mutter oder einer anderen Bindungsperson gelernt: „Ich fühle, dass du fühlst, dass ich fühle. Ich denke, dass du denkst, dass ich denke.“
Die Fähigkeit zur Einfühlung ist vielleicht der größte Gewinn, den ein Kind mit einer sicheren Bindung hat. Es weiß: „Ich unterscheide mich von dir, ich habe eine andere Handlungsabsicht, aber wir können uns über Gefühle, Gedanken und Absichten austauschen.“ Dies ist die Voraussetzung, um Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen, andere zu verstehen, Kompromisse zu finden oder auch dem anderen in seinem Glück oder seiner Not beizustehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Gabriela Jehn
SAFE
Mehr Informationen zu den von Dr. Brisch initiierten Elternkursen SAFE finden Sie unter www.safe-programm.de SAFE steht für "Sichere Ausbildung für Eltern" und ist immer auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die Kurse möchten Eltern dabei helfen, ihre persönlichen, elterlichen Kompetenzen zu stärken und sie befähigen, eine positive Eltern-Kind-Beziehung aufzubauen, als Grundstein für die weitere gesunde Entwicklung ihres Kindes.
Karl Heinz Brisch
SAFE Sichere Ausbildung für Eltern
Mit SAFE® können Eltern bereits in der Schwangerschaft lernen, feinfühlig, prompt und angemessen auf die Signale ihres Kindes zu reagieren und ihr Baby zu verstehen. Dadurch entwickeln die Babys eine sichere Bindung als stabiles Fundament ihrer Persönlichkeit. Das Buch ist als Begeitung der Elternkurse entstanden, aber auch ohne den Besuch eines Elternkurses gut zu lesen und zu verstehen.
Klett-Kotta, Stuttgart 2014
ISBN: 978-3-608-94601-7
Eine Auswahl an weiteren Büchern von Karl Heinz Brisch:
Karl Heinz Brisch, Schwangerschaft und Geburt, Klett-Kotta, Stuttgart 2013
Karl Heinz Brisch, Säuglings- und Kleinkindalter, Klett-Kotta, Stuttgart 2014
Karl Heinz Brisch, Kindergartenalter, Klett-Cotta, Stuttgart 2015
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