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Geheimnisse - Warum Kinder sie brauchen

„Kinder glauben, dass alle Dinge eine Seele haben, dass sie lebendig sind, fühlen und handeln können. Die Trennungslinien zwischen leblosen Gegenständen und lebendigen Wesen sind fließend. Eine wichtige Aufgabe für Eltern besteht darin, gemeinsam mit ihren Kindern die Welt des Unsichtbaren zu entdecken. Denn Geheimnisse, Symbole und innere Bilder sind für Kinder lebensnotwendig“, sagt die erfolgreiche Erzieherin und Spielpädagogin. Susanne Stöcklin-Meier, Jahrgang 1940, ist Spielpädagogin und Erzieherin und lebt in Diegten bei Basel. Seit mehr als 30 Jahren schreibt sie mit großem Erfolg Kinder- und Sachbücher zum Thema ganzheitliche Erziehung. Sie ist eine viel gefragte Referentin bei Fortbildungen für Erzieherinnen sowie Dozentin bei Pädagogischen Kongressen und Veranstaltungen für Eltern.

 

Welche Rolle spielte das Geheimnisvolle in Ihrer Kindheit?

Ich bin in einem 300 Jahre alten Bauernhaus in der Schweiz aufgewachsen. In der Scheune und auf dem Dachboden fanden meine Geschwister und ich wunderbare Spielplätze. Rund um unser Haus gab es geheimnisvolle Plätze. Ich erinnere mich noch gut an zwei große Tannen, unter denen ich oft gesessen und dem emsigen Treiben der Ameisen zugeschaut habe. Oder an den riesigen Kirschbaum, dessen Zweige bis zum Boden reichten. Hier lagen wir, naschten Kirschen und betrachteten die vorüber ziehenden Wolken. In ihnen sahen wir Fabelwesen. Wir winkten ihnen zu und sprachen mit ihnen. Diese Erlebnisse erfüllen mich noch heute mit einem tiefen Glücksgefühl.

Sie hatten also eine rundum glückliche Kindheit?

Ja, obwohl es auch schwere Zeiten gab. Meine Mutter erkrankte an Lungentuberkulose, als ich fünf Jahre alt war. Sie musste für lange Zeit in ein Sanatorium. Meine Geschwister und ich wurden auf Familien verteilt, denn der Vater konnte sich keine Haushälterin leisten. In der fremden Familie fühlte ich mich nicht wohl. Doch über das Heimweh halfen mir meine Fantasiewesen hinweg. Ich malte mir damals aus, dass in jedem Zimmer ein anderes Männchen wohnt. Mit den Männlein habe ich erzählt, gesungen und gekichert. Die kleinen Kerle gaben mir so etwas wie ein Zuhause-Gefühl. Zu allem Übel bekam ich dann noch Kinderlähmung und musste Wochen lang im Spital liegen. Doch da waren die Engel bei mir, die mich seit meiner frühesten Kindheit begleiten. Sie haben auf meiner Bettkante gesessen, mit mir gespielt und mich getröstet.

 

Brauchen alle Kinder solche Fantasiewesen?

Ja, Kinder, die ihre Fantasie ausleben dürfen, können hinter den Spiegel schauen und haben viele Freunde auf der anderen Seite der Wirklichkeit. Sie brauchen deshalb Eltern, die Zugang zu dieser Welt des Unsichtbaren haben. Meine Mutter hatte darin eine ganz besondere Begabung. Denn sie war eine begnadete Erzählerin. Einmal in der Woche kamen an die 90 Kinder in ihre Sonntagsschule. Ich habe als kleines Mädchen immer dabei gesessen und fasziniert ihren Geschichten gelauscht.

 

Was hat Sie an diesen Geschichten so fasziniert?

Das Geheimnisvolle, das in ihnen steckte. Kinder brauchen Märchen. Denn sie bereiten den Weg in eine geistig-seelische Fantasiewelt. Ihre klaren Gesetzmäßigkeiten entsprechen dem kindlichen Auffassungsvermögen und dem altersgemäßen Entwicklungsweg.

Im Märchen siegt das Gute immer über das Böse. Doch auch das Böse hat eine Mission. Es hilft dem Märchenhelden in seiner Entwicklung zum Guten. Das Märchen bezieht darüber hinaus eindeutig Stellung und schafft damit klare Verhältnisse. Es gibt einen König und einen Schweinehirt, die gute Fee und die böse Hexe. Kinder brauchen solche überschaubaren Ordnungen und Normen. Sie erleben die Welt noch als schwarz-weiß. Aus den Vorbildern der Märchenheldinnen und –helden schöpfen sie für ihre eigene Lebenssituation Mut, Kraft und Zuversicht. Die Fantasie ist ein wunderbares Instrument. Sie hilft Kindern, diese Quellen zu erschließen. Aber auch religiöse Geschichten stecken voller wunderbarer Geheimnisse. Der Regenbogen, der in der Geschichte von Noahs Arche nach der Sintflut am Himmel steht, sagt uns allen, dass die Welt nicht untergeht, dass immer wieder ein Neuanfang möglich ist.

 

Betrachten Sie die Fantasiewelt Ihrer Kindheit heute eher nüchtern?

Nein, denn ich habe den Kontakt zu den Naturwesen Zeit meines Lebens nicht verloren. Es gibt Orte, an denen ich ihre Existenz körperlich spüre – aber nur dort, wo die Natur noch unverbaut und ursprünglich ist. Besonders intensive Erlebnisse hatte ich bei einem Neuseeland-Aufenthalt. Da fühlte ich deutlich: Zwischen der materiellen und der geistigen Welt ist an manchen Orten nur ein Hauch oder ein Nebel dazwischen. Manchmal schauen Menschen für kurze Augenblicke hinüber. Die Indianer beschreiben dieses Phänomen folgendermaßen: „Weise Männer und Frauen können durch den Spiegel gehen, von hier nach drüben und von drüben nach hier. Sie holen sich Rat bei den Ahnen in den ewigen Jagdgründen.“

Haben alle Kinder Zugang zu dieser Fantasiewelt?

Kleine Kinder tragen das Wissen der geistigen Welten noch in sich. Leider werden sie in der Regel von uns Erwachsenen zu rasch und recht unsanft in die harte Realität der heutigen Zeit geschubst. Wir vertreiben sie aus ihrem Paradies. Um sich gesund zu entwickeln, brauchen Kinder jedoch neben körperlicher Pflege auch Nahrung für ihre Seele. Die finden sie in ihren Fantasiewelten, zu denen nicht zuletzt die Märchen gehören. Leider aber ist unsere Welt mit zunehmender Aufklärung entzaubert worden. Im Zuge der Industrialisierung haben wir ein materialistisches Weltverständnis entwickelt. Die geistigen Werte mussten dem weichen, was naturwissenschaftlich zu beweisen war. Der Ausspruch „Erzähl mir keine Märchen!“ zeigt, dass man Fantasiegeschichten als Lügen empfinden kann. Dabei wirken Märchen heilend auf Psyche und Gemüt. Die alten Texte offenbaren urmenschliche, elementare Lebenserfahrungen und Erkenntnisse. Kinder haben gefühlsmäßig einen direkten Zugang zu den Wahrheiten, die in diesen Texten stecken. Der bekannte Hirnforscher Prof. Gerald Hüther bringt es auf den Punkt, indem er sagt: „Märchen sind Superdoping für Kinderhirne. Denn sie aktivieren die emotionalen Zentren im Gehirn und helfen den Kindern Ruhe zu finden und sich zu konzentrieren. Darüber hinaus regen sie Fantasie und Kreativität an. Eltern, die ihrem Kind solche kostbaren Märchenstunden schenken, bekommen dafür sogar noch etwas zurück: Nähe und Vertrauen und ein Strahlen in den Augen des Kindes.“

 

Warum sind Märchen und Fantasiewesen für Kinder Realität?

Um dies zu verstehen, muss man sich in das kindliche Denken einfühlen: Ein Stein etwa lebt für das Kind, weil er einen Abhang hinunter kullert oder durch die Luft fliegen kann.

Es glaubt dass der Fluss lebt und einen eigenen Willen hat, weil sein Wasser fließt. Jeder Baum erscheint ihm als lebendiges Wesen, weil er seine Äste im Wind schütteln kann und seine Blätter tanzen lässt. Im Alter zwischen etwa drei und sieben Jahren ist die Trennungslinie zwischen leblosen Gegenständen und lebendigen Wesen fließend. Kinder sind überzeugt, dass wir die Sprache der Bäume, des Windes und des Wassers verstehen können, wenn wir nur gut genug hinhören. Sie unterhalten sich ja auch mit ihren „stummen“ Spieltieren und Puppen.

 

Was machen Erwachsene hier oft falsch?

Sie weisen das Kind oft zurecht: „Das gibt es nicht! Dinge können nicht fühlen und handeln! Schluss mit dem Blödsinn! Es gibt keine Gespenster!“ Oder sie fragen: „Warum zeichnest du die Sonne grün? Das ist falsch.“ Und wenn das Kind eine Fantasiegeschichte erfindet, sagen sie: „Hör auf mit dem Lügen!“ Um den Erwachsenen zu gefallen und nicht lächerlich gemacht zu werden, täuscht das Kind vor zu glauben, was ihm gesagt wird. Doch tief in seinem Herzen ist es anderer Überzeugung. Unter dem rationalen und materialistischen Einfluss der Erwachsenen vergräbt das Kind sein wahres Wesen noch tiefer in sich. Es glaubt schlicht und einfach nicht, was ihm da erzählt wird, weil es die Welt ja anders erlebt. Für Kinder ist Sichtbares wie Unsichtbares in gleicher Weise Realität. Deswegen kommen sie oft in einen inneren Zwiespalt. Hier können die Ursprünge von Ängsten, Problemen und negativen Verhaltensweisen liegen, welche die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen. Dabei sind Fantasie, Vorstellungsvermögen, innere Bildkraft und Erfindungsgabe unerlässlich für die gesunde Entwicklung der Kinder.

Was möchten Sie Eltern gern mit auf den Weg geben?

In China gibt es ein Sprichwort: „Die Arbeit läuft dir nicht davon, wenn du deinem Kind einen Regenbogen zeigst. Aber der Regenbogen wartet nicht, bis du mit deiner Arbeit fertig bist!“ Wenn wir uns Zeit nehmen und genau hinschauen und –hören, verstehen wir, was beim Spielen der Kinder passiert. Und wir haben einen besseren Zugang zur kindlichen Welt. Das Spiel ist eine den Kindern eigene Form zu leben. Es lehrt sie mit ihren Gefühlen umzugehen. Eine wichtige Bedeutung hat dabei das Fantasieren – ebenso wie Bewegungsfreude, Denken und Sprechen. Wer seine Kinder achtsam erzieht und ihnen Liebe und Zeit schenkt, macht sie seelisch stark. Eltern sollten mit den Kindern im Alltag schöne Augenblicke schaffen. Das geht in ganz kleinen Schritten, indem man beim Vorlesen eine Kerze anzündet, sich gemeinsam um Pflanzen kümmert oder den Sternenhimmel bewundert.

Ein Beispiel: Schon kleine Kinder haben zu Pflanzen eine besondere Beziehung. Gewissenhaft versorgen sie sie mit Wasser, wenn wir ihnen sagen, dass uns die Blumen mit ihrem Duft dafür danken. Wenn ich Kindern darüber hinaus erzähle, dass die Elfen zum Beispiel im Rosenduft schweben und den Rosen die Farbe geben, spreche ich auch die geistige Welt mit an. Wenn Kinder dann in der Natur eine Rose sehen, werden diese Bilder wieder in ihnen lebendig. Die Natur steckt voller Geheimnisse. Eltern sollten ihrem Kind deshalb jede Möglichkeit geben, sie zu entdecken. Sie könnten gemeinsam im Wald Zwerge suchen und Mooshöhlen bauen. Es ist wunderbar, wenn ein Kind auf diese Weise eine Beziehung zur Natur aufbaut. Umso achtsamer wird es später einmal mit ihr umgehen. Und umso mehr bewahren sie in ihrem Inneren das Bewusstsein für das Geheimnisvolle, das über allen Dingen schwebt.

Frau Stöcklin-Meier, wir danken Ihnen für das Gespräch!

 

Die Webseite von Susanne Stöcklin-Meier: www.stoecklin-meier.ch

 

Buchtipps


Werte: Was bestimmt unser Tun und Lassen?

Aus der Buchreihe „Flensburger Hefte“

Ein wertvolles Sammelwerk, in dem namhafte Vertreter aus Politik, Pädagogik, Religion, Anthroposophie sowie viele Jugendliche zu Wort kommen. Dabei wird Fragen nachgegangen wie: „Was ist ein Wert? Welches sind die höchsten Werte? Wie erringe ich Werte und gestalte sie zur Richtschnur meines persönlichen Lebens?“ In einem Kapitel berichtet Susanne Stöcklin-Meier vom Ursprung der Werte und wie man sie mit Kindern entdecken kann. Sie schildert ihre Beobachtungen und Einschätzungen und gibt Eltern Ratschläge für einen achtsamen Umgang mit ihren Kindern. Sie plädiert für eine Erziehung mit viel Liebe, die aber ohne Regeln nicht funktioniert. Und sie macht Müttern und Vätern Mut, die Welt wieder mit den Augen eines Kindes zu betrachten und ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen.

Nr. 83 aus der Reihe „Flensburger Hefte“, 228 Seiten, 15 Euro, im Buchhandel (ISBN-Nr. 3-935679-15-7) oder bei www.flensburgerhefte.de

 
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