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Die neue Kinderarmut: Ist unsere Gesellschaft in Gefahr?

„Kinderarmut hat zwei Facetten. Bei der Geburtenzahl von etwa 650.000 Kindern jährlich bildet Deutschland im europäischen Vergleich das Schlusslicht. Und: In Deutschland, der viert reichsten Nation der Erde, lebt heute etwa jedes zehnte Kind in Armut. Zum Vergleich: In Dänemark gibt es etwa viermal weniger arme Kinder als hierzulande. Ähnlich niedrige Armutsraten gelten für die anderen nördlichen europäischen Länder und für die Niederlande. Gleichzeitig aber weisen gerade diese Länder innerhalb Europas die höchsten Geburtenraten auf.

Im reichsten und produktivsten Land Europas werden also am wenigsten Kinder geboren. Und unter diesen finden sich zudem noch deutlich mehr arme Kinder als in den meisten anderen europäischen Ländern“, kritisiert der Kinderarzt, Wissenschaftler und Buchautor Dr. Herbert Renz-Polster.

Dr. med. Herbert Renz-Polster, Jahrgang 1960, ist Kinderarzt, Buchautor und Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Er erforscht seit Jahren, wie die Entwicklung von Kindern mit Hilfe der Evolutionstheorie besser verstanden werden kann. Er ist Vater von vier Kindern und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Ravensburg. Zuletzt erschien sein Buch „Menschenkinder – Plädoyer für eine artgerechte Erziehung“.


Sie beschreiben diesen Zustand als „Bankrotterklärung der deutschen Gesellschaft“. Was liegt bei uns im Argen?
Wir haben immer nur das Investitionsklima für die Wirtschaft im Auge gehabt – und nicht das Klima dort, wo Kinder geboren und großgezogen werden. Seit dem Beginn der Globalisierung sind Erwachsene mit Kindern in Deutschland bei den Realeinkommen immer weiter abgehängt worden. Zumindest in der unteren Mittelschicht stellen Kinder inzwischen sogar ein Armutsrisiko darf. Erwachsene stehen in vielen Fällen tatsächlich vor der Wahl, entweder ihre soziale Position zu halten oder Kinder zu haben.

Vergeht jungen Frauen und Männern in unserer Zeit immer mehr die Lust an Kindern?

Nein. Wo immer junge Paare ausreichend Unterstützung bekommen, wählen die meisten von ihnen ein Leben mit Kindern. Auch für moderne Frauen ist die Mutterschaft immer noch eine wichtige Option, wie das Beispiel Skandinavien seit vielen Jahren zeigt. Aber bei uns wird immer noch den Frauen die Schuld am Geburtenrückgang in die Schuhe geschoben. Zu Unrecht, wie ich finde. Hier gehe ich völlig d’accord mit Remo Largo, dem Nestor der europäischen Entwicklungspädiatrie, der einmal sagte: „Die Politik muss sich endlich zu der Einsicht durchringen, dass es erst dann wieder mehr Kinder geben wird, wenn es auch Freude macht, sie großzuziehen.“ Frauen werden von unserer Gesellschaft bestreikt. Denn diese hat für kurzfristige wirtschaftliche Ziele den evolutionären Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, der immer die Grundlage dafür war, dass Kinder erfolgreich aufwachsen konnten. Er bestand darin, dass die Menschen nicht nur Verantwortung für sich selbst übernehmen, sondern auch für die Gruppe, in der sie leben.

Das müssen Sie erklären. Denn gerade in der Evolution geht es doch um das Recht des Stärkeren, also um Egoismus – oder?

Das ist eine grobe Verkürzung. Denn in Wirklichkeit gibt es in der Evolution zwei Strategien, die von den unterschiedlichen Arten in ganz unterschiedlichem Maß genutzt werden: Kooperation und Konkurrenz. Beides sind effektive Methoden, um die knappen Ressourcen der Umwelt zu nutzen. Darüber, welches die angestammte Überlebensstrategie des Menschen ist, wurde und wird heftig gestritten. Die einen vermuten mit Blick auf die Jäger- und Sammlergemeinschaften, in denen wir ja die allermeiste Zeit unserer Geschichte gelebt haben, eine Art Ur-Kommunismus, in dem alle Stammesmitglieder gleich waren und perfekt zusammengearbeitet haben. Die anderen unterstellen ein „Jeder gegen jeden“. Die evolutionäre Verhaltensforschung schlägt sich auf keine der beiden Seiten. Die Jäger- und Sammlergemeinschaft war zum einen eine Leistungsgesellschaft. Ganz sicher herrschte aber auch kein „Jeder gegen jeden“. In einer Umwelt, in der es keine Lagerhallen und keine Kühlschränke gab, war Kooperation und Teilen eine Art Lebensversicherung. Wer teilte, erwarb ja auch ein Anrecht auf Versorgung, wenn er mal mit leeren Händen heimkam. Beobachtungen an noch heute als Jäger und Sammler lebenden Gruppen zeigen, dass der Mensch in vielen Klimazonen überhaupt nur überleben kann, indem er den Austausch mit anderen Gruppen systematisch pflegt. Kein Wunder, dass ein großer Teil unserer Gehirnleistung auf soziale Fertigkeiten ausgerichtet ist – unsere Fähigkeit zu Empathie und Anteilnahme etwa, unsere Kommunikationsfähigkeit, unser Bedürfnis nach Wertschätzung und Anerkennung durch andere. Zusammengefasst heißt das: Der Mensch hat ein individualistisches, aber gleichzeitig soziales Gehirn.

Steckt dieses uralte Lebensmodell auch heute noch in uns?

Eindeutig ja! Schauen wir uns nur einmal die kindliche Entwicklung an. Kinder verfolgen zwei Strategien – mit allen darin enthaltenen Spannungen. Sie wollen nicht hervorstechen, aber doch herausragend sein. Sie wollen zur Gruppe gehören - aber doch etwas Eigenes tun. Auch heute noch folgen sie also einem im Grunde paradoxen Entwicklungsauftrag: sich einfügen und sich abheben, autonom und gleichzeitig verbunden sein. Kein Wunder, dass uns einerseits der Konformitätsdruck auffällt, der unter Kindern herrscht, andererseits aber auch ihr Hang zur großen Bühne - denken wir nur an „Deutschland sucht den Superstar“. Die kindliche Entwicklung kann geradezu als Suche nach einer geglückten Balance von Konkurrenz und Kooperation verstanden werden.

Gilt das auch für Erwachsene?

Ja, denn aus der Psychologie und der Salutogeneseforschung ist bekannt, dass Menschen, so verschieden sie auch sind, in ihrem Leben durch ganz ähnliche Erfahrungen Aufwind bekommen: Sie wollen sozial eingebunden, für ihre Kompetenz wertgeschätzt sein, und sie wollen mitentscheiden können. An diesen drei unsichtbaren Schnüren – Verbundenheit, Kompetenz und Autonomie – hängt unsere Zufriedenheit. Sie halten uns gesund und leistungsstark. Das ist der Grund, weshalb sich eine Langzeitarbeitslosigkeit auf die Lebenserwartung kaum weniger verheerend auswirkt als eine Krebsdiagnose. Da werden oft ja alle drei Schnüre gleichzeitig gekappt.

Was passiert mit einer Gesellschaft, in der diese drei unsichtbaren Schnüre bei immer mehr Menschen und in immer mehr Lebenssituation gekappt werden?

Im internationalen Vergleich lässt sich nachweisen: Einer Gesellschaft geht es auf allen Ebenen umso schlechter, je mehr Ungleichheit herrscht – egal auf welchem Reichtumsniveau. Ausgeglichene Gesellschaften haben eine geringere Kriminalität, eine höhere Lebenserwartung – und gesündere Kinder. Ungleichheit aber steht für ein hohes Maß an Konkurrenz und wenig Kooperation. Was zählt, ist die wirtschaftliche Produktivität des Einzelnen. Interessenausgleich, Kooperation und soziale Einbindung werden kleingeschrieben. Die verlorene Balance trifft Menschen mit Fürsorgepflichten am härtesten. Diejenigen, die Kinder versorgen, landen immer öfter am Rand der Gesellschaft. Sie erhöhen mit dieser Tätigkeit ja nicht ihre Produktivität oder ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt – im Gegenteil.

Woran liegt es, dass unsere Gesellschaft in eine solche Schieflage geraten ist?

Es hat mit der immer brutaleren Ausrichtung auf wirtschaftlichen Erfolg zu tun. Im Namen der individuellen Freiheit haben wir eine ganze Schicht von der Verantwortung für die Gesamtheit entbunden. Ein Fondsmanager kann heute durch die Spekulation mit Rohstoffen oder Nahrungsmitteln das Hunderttausendfache von dem verdienen, was eine Erzieherin bekommt. Ein Schönheitschirurg verdient am Tag oft mehr als eine Tagesmutter in einem ganzen Jahr. Es ist an der Zeit, dass wir wieder öfter nach dem gesellschaftlichen Nutzen fragen. Und es spricht gar nichts dagegen, dass wir unsere Gesellschaft so gestalten, dass auch die Bonusempfänger und Millionen-Erben dieser Republik ihren fairen Beitrag dazu leisten, dass in ein paar Jahrzehnten hier noch Kinder leben.

Familien brauchen Hilfe. Dass sie diese erhalten, schreiben sich Politiker auf ihre Fahnen. Tun sie genug?

Es ist paradox: In Deutschland wird für Familien einiges ausgegeben. Im OECD-Durchschnitt liegen wir sogar im oberen Mittelfeld. Doch was man gibt, wird vor allem in Form direkter finanzieller Hilfen ausgeteilt – als Freibeträge bei der Steuer oder als Kindergeld. Aber genau das ist der am wenigsten geeignete Weg, um Kindern zu helfen. Effektiver ist das, was insbesondere die nördlichen europäischen Länder machen, nämlich die konkreten, direkt bei den Kindern ansetzenden Hilfen: Unterstützung der Kindergärten, Ausbau und Verbesserung der Krippen und Horte sowie Investitionen in die Schulen. Dies ergibt Sinn. Wir brauchen Kitas und Schulen, in denen Kinder sich gut entfalten können – unabhängig davon, ob ihr Papa Aufsichtsratsvorsitzender oder Arbeitsloser ist. Diese Lern- und Entwicklungswelten zu stärken und für alle Kinder zu öffnen, sollte der Schwerpunkt der Familienförderung sein. Denn die Stärkung der kindlichen Lebenswelten kommt bei allen Kindern an. Das hilft jeder Familie. Dass dadurch die Entwicklung der Kinder insgesamt besser läuft, lässt sich klar belegen.

Aber brauchen wir dazu auch Krippen? Sind kleine Kinder nicht besser bei ihrer Mutter aufgehoben, weil sie ja nur bei ihrer Hauptbezugsperson ein großes Maß an Liebe und Bindung erfahren?

Diese These ist aus evolutionärer Sicht nicht haltbar. Für die Betreuung ihrer Kinder stützten sich Mütter schon immer auf ein Netz von Helfern. Fest steht: Fremdbetreuung ist nicht etwa gegen die menschliche Natur. Denn rund um den Globus entwickeln Babys ihr Urvertrauen, auch wenn sie nicht ausschließlich von einer, sondern von mehreren Bezugspersonen versorgt werden. Viel interessanter ist aus evolutionärer Sicht eine andere Frage, nämlich die nach der Qualität der Betreuung. Denn im ursprünglichen Lebenskontext der Menschen wurden kleine Kinder immer schon von vertrauten, in das soziale System der Eltern eingebundenen Menschen betreut. Das ergab sich ja schon aus der kleinen Gruppengröße von Jäger- und Sammlergemeinschaften. Man kannte sich, war in ein gemeinsames Netz eingebunden. Die „Fremdbetreuung“ fand in einem räumlich und personell vertrauten Umfeld statt.

Wie muss Fremdbetreuung aussehen, damit sie kleinen Kindern das bietet, was sie für ihre Entwicklung benötigen?

Kleine Kinder brauchen erstens möglichst verlässliche und stabile Verhältnisse und feste Bezugspersonen. Eine Krippenbetreuung mit den heute üblichen Stellenschlüsseln – im Durchschnitt fünf Kinder auf eine Betreuerin - ist zum Scheitern verurteilt. Ein großes Problem ist zudem die Fluktuation des Personals. Zweitens führte Fremdbetreuung im evolutionären Modell das kleine Kind nicht in eine fremde Welt. Vielmehr kümmerten sich vertraute Personen an einem vertrauten Ort um das Kind. Das lässt sich auch heute schaffen – allerdings nur mit einer langen Eingewöhnungsphase, während der die neuen Bezüge wachsen können. Im Gegensatz zu den Forderungen mancher Bildungspolitiker brauchen Krippen drittens auch kein Personal, das an Universitäten ausgebildet wurde. Viel wichtiger sind erfahrene, kompetente, liebevolle und möglichst verlässlich verfügbare Betreuungspersonen. Viertens sieht das evolutionäre Betreuungsarrangement vor, dass Mütter ihr Kind bei der Arbeit möglichst weitgehend und flexibel bei sich haben können. Das ist das Ur-Modell der Babybetreuung. Wo aber sind die Halbtagsstellen, die flexiblen Arbeitszeiten für Mütter? Wo sind die Arbeitsplätze, an denen eine Mutter ihr Baby bei sich haben kann – und sei es nur eine Zeit lang? Wo ist die Betriebskrippe, in der die Mutter zum Stillen vorbeikommen kann? Last but not least: Die Mutter entscheidet – nicht irgendwelche Krippen-Skeptiker (die ja meist Männer sind und denen ihr Beruf über alles geht). Es gibt Kinder, die von ihrem Naturell her nicht so gut in einer Krippe zurechtkommen und vielleicht bei einer Tagesmutter besser aufgehoben sind. Und umgekehrt sind manche Kinder in einer gut geführten Krippe besser dran. Eltern wissen am besten, was ihrem Kind und auch ihnen selber gut tut. Wichtig ist auch, dass die Mutter selbst hinter ihrer Entscheidung steht. Denn nur zufriedene Mütter haben zufriedene Kinder.

Herr Dr. Renz-Polster, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für die Redaktion

Weitere Informationen über Dr. Herbert Renz-Polster finden Sie unter: www.menschenkinder-das-buch.de

Buchtipp

Herbert Renz-Polster: Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung.

Immer neue Theorien erklären, was Kinder brauchen und was Eltern angeblich falsch machen. Doch diese  Theorien ändern sich ständig – und sie widersprechen sich. Eltern stehen damit vor einer ernüchternden Tatsache: Ein guter Teil von dem, was über Kinder behauptet wird, ist reine Spekulation. Gut gemeint in aller Regel, aber trotzdem Geschwätz. Das Buch von Herbert Renz-Polster ermutigt Eltern und Erzieher, sich aufzulehnen gegen dieses Geschwätz, das immer mehr Eltern verunsichert. Der Kinderarzt und Wissenschaftler fordert auf, Maß zu nehmen, und zwar an den Kindern selbst. „Dazu müssen wir ihre Geschichte kennen“, erklärt er. „Denn wie sich Menschenkinder entwickeln, folgt keiner Willkür. Dahinter steht ein sinnvolles Muster. Es hat sich als Antwort auf die Herausforderungen gebildet, vor denen die Kinder in der Menschheitsgeschichte immer wieder standen. Dieser Blick weist auf Stärken, nicht auf Mängel oder Schwachstellen der Kinder. Denn auf ihrem Weg durch die Geschichte mussten die Kleinen vor allem eines lernen: wie man das Großwerden am besten anpackt. Und dieser Blick kann auch nicht bei den Eltern hängen bleiben, (denen ja angeblich ein Elternführerschein fehlt!) Denn wer Kinder aus ihrer Geschichte heraus versteht, landet automatisch bei einer Frage, die wir heute zwar für Legehennen stellen, für Kinder aber viel zu lange vernachlässigt haben: der Frage nach dem artgerechten Entwicklungsrahmen.“ Unter welchen Umständen gedeihen Kinder am besten? Wodurch haben sie Rückenwind, wodurch Gegenwind? Zur Beantwortung dieser Fragen lädt der Autor seine Leser zu einem gemeinsamen Rundgang durch das „Dorf“ ein, in dem unsere Kinder heute aufwachsen. Er erklärt, was im Argen liegt und was wir tun können, um für die Kleinen einen angemessenen Entwicklungsraum zu schaffen. Ein herausragendes Buch, ein Mutmacher für Eltern, der sich von zweifelhaften Bestsellern wie „Die Mutter des Erfolgs – Wie ich meinen Kindern das Seigen beibrachte“ Herz erfrischend abhebt. Es wird Zeit, sich wieder mit den humanistischen Werten des Abendlandes zu beschäftigen – und nicht einem Credo anzuhängen, das Eltern glauben machen will, dass es einzig und allein darum geht, die Kampfkraft der Kleinen für den globalisierten Markt zu stählen.

192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 17,99 Euro, Kösel Verlag

 
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