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Wilde Rangen - Gesund und glücklich!

„Kinder schaffen oft aus dem Nichts Bewegungsspiele: Konservendosen werden zu Fußbällen und Bordsteinkanten zu Balancierbalken. Diese scheinbar nur noch Kindern eigene Kreativität, sich auch in einer von Technik und Automatisierung bestimmten Welt Nischen fürs Selbermachen, Bewegen und Erkunden zu bewahren, darf uns Erwachsene jedoch nicht von der Verantwortung befreien, für eine kindgemäße und damit bewegungsgerechte Erziehung Sorge zu tragen“, sagt die Sportpädagogin und Buchautorin Prof. Dr. Renate Zimmer

Prof. Dr. Renate Zimmer ist Erziehungswissenschaftlerin und Sportpädagogin und seit 1981 als Professorin für Sportpädagogik an der Universität Osnabrück tätig. Seit 2008 ist sie Direktorin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung. Durch zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Bewegungserziehung und der Psychomotorik und durch eigene Forschungsprojekte im Bereich Bewegung von Kindern hat sie internationale Anerkennung gefunden. Im Jahr 2009 bekam sie den ersten Platz im Fachbereich Geistes-, Gesellschaft- und Kulturwissenschaften beim Wettbewerb der Zeitschrift UNICUM zum „Professor des Jahres“.

 

Bewegen sich unsere Kinder zu wenig?

Ja, und das hat gravierende Folgen. Denn Haltungsauffälligkeiten, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Schwächen und Bewegungsbeeinträchtigungen treten immer häufiger bereits bei Kindern im Vorschulalter auf. Nach den Ergebnissen der Kindergesundheitsstudie des Robert-Koch-Institutes (KIGGS) sind 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen übergewichtig. Verglichen mit den Daten von 1990 hat sich der Anteil übergewichtiger Kinder um 50 Prozent erhöht. Solche medizinischen Befunde geben Kinderärzten zunehmend Anlass zur Sorge.

 

Was passiert, wenn ein Kind sich nicht ausreichend bewegt?

Kinder, deren Spiel- und Bewegungsbedürfnisse nicht erfüllt werden, weisen häufig nicht nur Defizite in ihrer körperlichen Entwicklung und in ihrem Bewegungsverhalten auf, sondern auch in ihrer Konzentrationsfähigkeit, in ihrem Sozialverhalten und in ihrem Selbstvertrauen auf. Die Bewegungserfahrungen eines Kindes dürfen deshalb nicht unabhängig von seiner Gesamtentwicklung betrachtet werden. Der Motor der Entwicklung ist die kindliche Neugier. Sie ist die Energie, die Kinder zum Lernen antreibt. Kinder möchten Sachen anfassen, sie beobachten, ausprobieren und erkunden. Nur so können sie sich eine Vorstellung davon machen, wie die Dinge ihrer Umwelt beschaffen sind und wie sie funktionieren.

 

Ist unsere Welt bewegungsärmer geworden?

Ja, wir sitzen zu viel und bewegen uns zu wenig. Das Sitzen ist in unserer Gesellschaft zur häufigsten Körperhaltung geworden. Beim Essen, beim Arbeiten, beim Hausaufgaben machen, im Auto, in der Schule, im Kindergarten, beim Fernsehen, am Computer, im Wartezimmer beim Arzt: Nicht nur die Erwachsenen, auch die Kinder verbringen die meiste Zeit des Tages auf Stühlen. Sogar beim Spielen würden es die Erwachsenen am liebsten sehen, wenn die Kinder brav und ruhig am Tisch säßen. Die Schule ist eine Sitzschule, der Kindergarten ein Sitzkindergarten. In unserer Sitzgesellschaft scheinen die Stühle zu den wichtigsten Einrichtungsgegenständen zu gehören. In vielen Kindergärten gibt es für jedes Kind einen Stuhl, aber nur eineinhalb Quadratmeter Fläche im Gruppenraum – inklusive Stuhl und Platz am Tisch. Da hilft nur, die Stühle rauszuräumen und sie eben nur bei Bedarf wieder aufzustellen.

 

Aber sind Stillsitzen und Konzentrieren nicht wichtige Voraussetzungen fürs Lernen?

Nein. Erwachsene – Eltern, Erzieherinnen und vor allem Lehrerinnen und Lehrer – meinen häufig, lernen könne man nur bei Ruhe und Konzentration, und dazu sei vor allem Sitzen erforderlich. Dies trifft für Kinder aber nicht zu: Sitzen ist für sie eher eine Strafe als ein Genuss. Viel lieber liegen sie auf dem Boden, laufen herum, wippen und federn auf Bällen, und in solchen von ihnen bevorzugten Körperlagen können sie sich auch viel besser konzentrieren. Sie lernen am besten in einer entspannten Atmosphäre, wenn sie Spaß und Freude empfinden. Eine Einengung der körperlichen Bedürfnisse hat meist auch eine Einengung der geistigen Beweglichkeit zur Folge. Sitzen ist weder gesund, noch fördert es die Konzentration. Im Gegenteil, es behindert sie geradezu. Kinder brauchen Bewegung – und dies nicht nur an dafür vorgesehenen Orten und zu bestimmten Zeiten, sondern überall dort, wo sie sich aufhalten. Nur wenn Kinder ausreichend Bewegungsmöglichkeiten haben, können sie auch zu Ruhe und Konzentration finden. Und dann schadet auch ein Stuhl nicht.

 

Wie können Eltern das Kinderzimmer bewegungsfreundlicher gestalten?

Oft ist es gut, auf den – sowieso kaum gebrauchten – Schreibtisch samt Stuhl zu verzichten und Platz zu machen für großräumige Bewegungsspiele. Hausaufgaben machen die jüngeren Kinder sowieso lieber am Küchentisch, dort, wo der Rest der Familie sich aufhält, wo jemand ist, den sie fragen und mit dem sie sich zwischendurch auch einmal unterhalten können. Auch sperrige Schränke nehmen in der Regel zu viel Platz weg. Offene Regale, die an der Wand befestigt werden, sind für die Aufbewahrung von Kleidungsstücken und Spielsachen weitaus Platz sparender. Stühle – sofern sie überhaupt nötig sind – können durch Hocker ersetzt werden. Matratzenteile und Schaumstoffelemente lassen sich vielseitig zum Spielen verwenden und bei Bedarf übereinander stapeln, so dass im Zimmer noch Freifläche bleibt. Vor allem darf das Kinderzimmer nicht durch eine Menge Spielzeug erdrückt werden. Manchmal ist es sinnvoll, einen Teil der Spielsachen wegzuräumen und nach einiger Zeit wieder hervorzuholen. Dann erhalten sie wieder einen ganz neuen Spielwert. Fernseher und Computer gehören überhaupt nicht ins Kinderzimmer. Denn mit der Verfügbarkeit des Fernsehers ist jederzeit ein unkontrollierter Zugang möglich. Und damit sind sogar Jugendliche noch überfordert. Im Kinderzimmer ist Multifunktionalität das A und O. Die Einrichtungsgegenstände sollten deshalb mehrere Funktionen erfüllen. Zum Beispiel Schaumstoff oder kleinere Matratzenelemente, die zum Bauen von Höhlen, zum Springen und Rollen, aber auch als Sitz- oder Liegefläche genutzt werden können. Stabile Karabinerhaken an der Decke ermöglichen das Aufhängen einer Tellerschaukel oder eines Klettertaus, einer Hängematte oder eines Trapezes. All diese Gegenstände sollten aber auch wieder abgenommen werden können, so dass sie untereinander austauschbar sind. Beispiele wie die folgenden lassen sich schnell und unkompliziert verwirklichen: Springburg aus Polster, Kissen und Schaumstoffelementen; Buden und Kuschelhöhlen aus aufrecht gestellten Polsterteile, Bettlaken und Decken; schiefe Ebenen, schräge Kletterflächen durch mehrteilige Matratzen oder Schaumstoffteile; Rutschen aus gehobelten, schräg ans Bett gelehnten Brettern; Brücken und Stege zum Balancieren – einfach ein Brett über zwei stabile Hocker oder über dicke Schaumstoffelemente legen.

Wer Kinder beim Herumtollen beobachtet, wird feststellen, mit wie viel Spaß sie bei der Sache sind. Warum ist das so?

Für Kinder scheint es nichts Schöneres und Befriedigenderes zu geben, als zu rennen, zu spielen, zu klettern und zu springen. Balancieren, Hindernisse überwinden, auf ein Ziel werfen – das alles tun Kinder von sich aus und ohne Aufforderungen durch Erwachsene. Solche Bewegungsspiele entstehen oft spontan. Die Befriedigung, die Kinder daraus ziehen, liegt nicht im Erreichen eines von außen gesetzten Ziels, sondern im Bewegen selbst. Sie bewegen sich, wo immer sie Gelegenheit dazu haben – auch dann, wenn sie es nicht sollen. Bewegung macht Kindern erst richtig Spaß, wenn es auch wild und turbulent zugehen darf, Dann wird Bewegung zum Toben – von den Erwachsenen meist als unkontrolliertes Herumrennen und Springen verstanden. Das sehen die Kinder anders: Durch Toben und Herumtollen drücken sie ihre Lust am Leben aus, an der körperlich-sinnlichen Inangriffnahme der Welt.

 

Wie erfährt das Kind dabei sich selbst?

Es lernt, mit seinem Körper umzugehen, ihn einzuschätzen, seine Signale zu beachten. Aus Raum-, Zeit- und Bewegungserfahrungen baut es sich ein schematisches Bild vom eigenen Körper auf. Das Kind erwirbt Wissen und Kenntnisse über seine äußere Gestalt, über den Aufbau und die Bewegungsfähigkeit einzelner Körperteile. Die Erfahrungen, die das Kind mit seinem und über seinen Körper in Bewegungssituationen macht, stellen die Basis für die Entwicklung seines Selbstbewusstseins dar. Sie können in hohem Maße dazu beitragen, dass es ein positives Bild von sich selbst aufbaut und vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnt. Der Aufbau des „Selbst“, des Vertrauens in die eigene Person und das Bild, das man sich über sich selber macht, ist bei einem Kind im Wesentlichen geprägt von den Körpererfahrungen, die es in den ersten Lebensjahren macht. Diese Erfahrungen sind wichtig fürs ganze Leben. Denn um im Alltag bestehen zu können, brauchen Kinder Selbstvertrauen, ein stabiles Selbstwertgefühl, das sie stark genug macht, auch Belastungen zu ertragen und den Anforderungen von außen gewachsen zu sein. Ein solches Selbstwertgefühl entwickelt sich nur, wenn Kinder die Erfahrung machen können, dass sie selbst etwas bewirken und verändern können, dass ihre Anstrengung Erfolg hat und sie ihre eigene Kompetenz erfahren können.

Wie unterstützt Bewegung die geistige Entwicklung eines Kindes?

Das Kind nimmt die Welt vor allem auch über seine Sinne wahr. Über Bewegung gewinnt es Kontakt zu seiner Umwelt. Sie verbindet seine Innenwelt mit der Außenwelt. Damit sich ein Kind zum Beispiel unter dem Begriff Schwung etwas vorstellen kann, muss es ihn in der Bewegung erfahren haben: indem es entweder selbst etwas in Bewegung setzt, zum Beispiel ein am Baum hängendes Tau hin –und herschwingen lässt, oder indem es sich selbst bewegt und dabei Anschwung braucht beziehungsweise selbst erzeugt, zum Beispiel auf einer Schaukel. Dies sind „Erfahrungen aus erster Hand“, die das Kind mit Körper und Geist beim Ausprobieren und Experimentieren macht. Kinder brauchen Gelegenheiten, etwas zu erforschen, sich mit einer Sache auseinanderzusetzen. Sie brauchen die Freiheit, auch einmal Fehler zu machen, sie zu korrigieren und aus diesen zu lernen. Das Kind ist ein aktives Wesen. Es kann nicht auf die eigenständige Tätigkeit verzichten, denn sie ist für eine gesunde Entwicklung wichtig.

 

Aber oft gehören beim Klettern oder Balancieren Mut und Anstrengung dazu. Liegt darin für Kinder ein Reiz?

Ja, denn sie wollen sich selbst herausfordern, Angst überwinden, Grenzen finden oder Risiken eingehen. Beobachtet man zum Beispiel Kinder beim Überspringen eines Grabens oder einer Pfütze, dann suchen sie sich selten die sicherste, einfachste Stelle zum Überspringen aus. Sie gehen das Risiko ein, in den Graben zu fallen oder in der Pfütze zu landen. Der Reiz des Springens liegt im ungewissen Ausgang. Welchen Sinn hätte es sonst überhaupt, über eine Pfütze zu springen? Schließlich kann man um die meisten Pfützen bequem herumgehen. Erwachsene können die scheinbar ziellosen Bewegungshandlungen von Kindern oft nicht nachvollziehen. Doch Toben, Rennen und Sich-Verausgaben sind durchaus wichtig für die körperliche Entwicklung des Kindes. Denn so werden Wachstumsreize unterstützt und das Herz-Kreislauf-System angeregt. Das Kind lernt, seine Sprungkraft zu steigern und das Gleichgewicht zu halten. Und es lernt darüber hinaus, bei Misserfolgen nicht gleich aufzugeben. Hinzu kommt:

Begriffe, die dem Erwachsenen selbstverständlich erscheinen, müssen vom Kind erst durch konkrete Handlungen gebildet werden. Was etwa „Gleichgewicht“ bedeutet, kann ein Kind nur verstehen, wenn es in verschiedenen Situationen mit dem Gleichgewicht experimentiert. So balanciert es über breite Mauern und kann dabei die Hände in den Hosentaschen lassen. Wenn es über eine schmale Bürgersteigkante geht, muss es dagegen die Arme ausbreiten, um das Gleichgewicht zu halten. Erwachsene, die dem Kind sofort Hilfestellung geben oder ihm sogar das Balancieren - wenn es nicht wirklich gefährlich ist – verbieten, verhindern nicht nur wichtige Bewegungserfahrungen. Sie schränken ihr Kind auch im Aufbau seiner Begriffswelt und in seiner Denkentwicklung ein.

 

Frau Prof. Dr. Zimmer, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für die Redaktion

Buchtipps

 

Renate Zimmer:

Kinder unter 3 – von Anfang an selbstbewusst und kompetent.
Ein Leitfaden für Eltern mit vielen Bewegungsspielen

 

Wie bekommen Kinder unter 3 den bestmöglichen Start für eine gute Entwicklung? Bewegungsexpertin Renate Zimmer erklärt, warum gerade unsere Jüngsten Freiraum brauchen, um ihre Umwelt mit allen Sinnen zu erforschen und dabei stark und selbstbewusst zu werden. Dieser wertvolle und inhaltsreiche Ratgeber enthält darüber hinaus zahlreiche Ideen für kreative Bewegungsspiele, die Eltern schnell und unkompliziert im Alltag mit den Kindern umsetzen können.

160 Seiten, Herder Verlag, Freiburg


Renate Zimmer:

Schafft die Stühle ab! Was Kinder durch Bewegung lernen

Kein Zaun zu hoch, keine Pfütze zu tief: Bewegung und unmittelbare Sinneserfahrungen machen Kinder klug und selbstbewusst. Renate Zimmer, Expertin zum Thema Bewegungserziehung, hat Spielideen zusammengestellt, die Kindern und Eltern Spaß machen: für drinnen und draußen, zum Toben und Entspannen, allein, zu zweit oder zu mehreren.

160 Seiten, Herder Verlag, Freiburg

 


Renate Zimmer:

Toben macht schlau! Bewegung statt Verkopfung

 

Bewegung ist das beste Startkapital zum Lernen – von Anfang an: Sie fördert die Netzwerkbildung des Gehirns und erleichtert es so, neues Wissen aufzunehmen und zu verarbeiten. Das Buch ist eine Fundgrube mit Aktivitäten und Sielideen für kluge Kinderköpfe im Vorschulalter.

160 Seiten, Herder Verlag, Freiburg

 
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