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Hyperaktive Kinder

„Die Welt, die wir uns inzwischen zugerichtet haben, ist keine Welt mehr für Kinder. So genannte schwierige Kinder weisen keine Verhaltensstörungen auf, sondern sind Leidtragende von Verhältnisstörungen. Zuschreibungen wie ADS oder Legasthenie (nur wenige wissen um die wissenschaftstheoretischen Glaubwürdigkeitsmängel dieser Konstrukte) sind alarmierende Zeichen eines Entfremdungsprozesses zwischen Kindheitswelt und Erwachsenenwelt, der zunehmend feindselige Züge annimmt. Wir brauchen deshalb dringend einen Kurswechsel. Es ist nämlich kein Unglück ein hyperaktives Kind zu haben. Es ist ein Unglück, dass es als Unglück gilt, ein hyperaktives Kind zu haben“, sagt der Heilpädagoge und Kindertherapeut Henning Köhler.

Henning Köhler, Jahrgang 1951, arbeitet als Heilpädagoge und Kindertherapeut in ambulanter Praxis in dem von ihm mitbegründeten „Janusz Korczak Institut in Nürtingen. Er ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema „Kindsein in dieser Welt“.

 

Herr Köhler, was verbirgt sich hinter dem Begriff ADS?

Henning Köhler: Dahinter steckt der hässliche Begriff „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“. Im Grunde genommen ist ADS eine Sammelbezeichnung für Kinder, die sich nicht so konzentrieren und einfügen können, wie es in der heutigen Zeit erwartet wird. Viele von ihnen sind zappelig, ungehorsam und frech, andere still und verträumt. Die Behauptung, so genannte ADS-Kinder litten unter einem Defekt, ist als solche nicht etwa eine Frucht wissenschaftlichen Forschens, sondern ein vorgefertigtes Urteil, das in die Untersuchungen hineingetragen wird und ihnen als Rechtfertigungsgrundlage dient. Man könnte den Begriff ADS etwa so beschreiben: Wir haben es hier mit einem abweichenden Wahrnehmungs- und Kommunikationsstil zu tun. Er repräsentiert - bis in die feinen neuronalen Strukturen hinein - eine relativ seltene, aber allem Anschein nach immer häufiger auftretende Intelligenzvariante. Diese bedarf der umsichtigen Förderung. Anderenfalls kommt es zu permanenten Frustrationserlebnissen. Und die wiederum können zu einer Eskalation der sozialen Verhaltensprobleme führen.

In einem Ihrer Bücher stellen Sie die Frage: „War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört?“ Wie ist das zu verstehen?

Ich habe mich ausführlich mit folgenden Fragen auseinandergesetzt: Steckte hinter den Streichen des legendären Lausbuben Ludwig Thoma eine Aufmerksamkeitsstörung? Hatte Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga aus diesem Grund „immer nur Unsinn im Sinn“? Funktionierte bei Momo, der kleinen Traumtänzerin aus Michael Endes gleichnamigen Roman, das Gehirn nicht optimal? Viele werden einwenden, es sei unsachgemäß, diese entzückenden kleinen literarischen Helden mit ADS-Kindern zu vergleichen. Wirklich? Erwachsene sollten mal wieder in Thomas Lausbubengeschichten und Lindgrens Michel-Büchern schmökern. Ludwig ist ein aussichtsloser Fall, schlichtweg unerziehbar. Er gilt als moralisch verdorben, weil er mit seinen Streichen und Frechheiten so ziemlich alle Autoritätspersonen auf die Palme bringt. Und Michel aus Lönneberga erst! Wo er hinkommt, richtet er ein heilloses Durcheinander an. In der Fantasie solidarisieren wir uns gern mit den unangepassten Kindern, empfinden Abneigung gegen die engstirnigen Erwachsenen und ihre penetranten Anpassungsforderungen. Wir kämen nie auf den Gedanken, dass Ludwig oder Michel unter einer Hirnfunktionsstörung leiden könnten. Grob überschlagen sind acht von zehn Kindern, die mit ADS-Diagnose in unserer Sprechstunde auftauchen, Ludwige, Michels oder Momos. Viele von ihnen treffen wir allerdings in einem desolaten Zustand an – nicht krankheitshalber, sondern weil sie sich unverstanden, abgelehnt, ausgegrenzt, qualvoll eingeengt und schuldig fühlen und allmählich selbst zu glauben beginnen, sie litten unter einem Hirndefekt.

 

Ist es nicht verantwortungslos, diese Kinder mit Medikamenten ruhig zu stellen?

Ja, im höchsten Maße. Es ist ein Skandal, dass immer mehr so genannte ADS-Kinder in immer früherem Alter mit bewusstseinsverändernden Medikamenten, etwa Ritalin, behandelt werden. Zigtausende Schulkinder nehmen Ritalin zum Frühstück oder in der Pause wie Traubenzuckertabletten. Aber nicht umsonst fällt der Wirkstoff Methylphenidat unter das Betäubungsmittelgesetz. Es ist eng verwandt mit Amphetamin und Kokain. Die Liste der möglichen unerwünschten Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel liest sich, obwohl längst nicht vollständig, wie ein Gruselstück. Hinzu kommt: Der reifende kindliche Organismus reagiert noch viel empfindlicher auf jede Art von Gift als der ausgereifte eines Erwachsenen.

Doch Jahr für Jahr steigt hierzulande der Absatz um 100 Prozent. Und es gibt keine zuverlässigen Untersuchungen über mögliche gravierende Spätfolgen. Doch selbst wenn sich diesbezügliche Befürchtungen nicht bestätigen sollten, ist die folgende Tatsache bestürzend genug: Massenhaft Kinder, deren Verhalten nicht den Erwartungen entspricht, erhalten eine Droge, deren einziger Zweck darin besteht, sie gefügig zu machen. Ich möchte Eltern keineswegs an den Pranger stellen. Es kommt mir auf das Maß an. Wenn nämlich das Mittel nur in extrem zugespitzten Situationen ausnahmsweise für einen kurzen Überbrückungszeitraum angewendet würde, hätten wir kein Problem. Der Ritalinboom jedoch ist das Resultat eines Ungeistes, den man durchschauen lernen muss. Es ist dieser Ungeist, der auch den ADS-Mythos hervorgebracht hat.

 

Was läuft hier falsch?

Wir leiden heute unter einem gespenstischen Mangel an Respekt und Großzügigkeit im Hinblick auf Normabweichungen der kindlichen Entwicklung. Man darf nicht voreilig das Kind aus dem Kind austreiben, sonst legt man Kraftquellen für das Leben trocken.

Viele Kinder leiden an dieser kindheitsfernen Zeit und brauchen deshalb Hilfe. Sie fühlen sich eingeschnürt, in die Enge getrieben, von Bleigewichten niedergezogen, unausgefüllt, gehetzt und überfordert. Zumeist bekommen sie aber keine Hilfe. Vielmehr stellt man sie mit Medikamenten ruhig. Ein Kind mag noch so temperamentvoll und unerschrocken sein und über eine noch so prächtige seelische Widerstandskraft verfügen: Wenn die wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen ein defektes Individuum in ihm sehen, führt dies mit der Zeit zu einer tiefen, nachhaltigen Verunsicherung. Das Selbstwertgefühl nimmt Schaden, und es ist weiß Gott nicht leicht, diesen Prozess im fortgeschrittenen Stadium wieder umzukehren.

Geht es denn auch ohne Medikamente?

Ja, wenn soziale Wärme, Verständnis, Wertschätzung, umsichtige pädagogische Führung und bei den Stärken der Kinder ansetzende Förderung gewährleistet sind, kann man auf Psychopharmaka verzichten. Wir können den schwierigen Kindern Mutkräfte einpflanzen, Vertrauenskräfte.

Dafür stehen im Märchen die Zaubergaben, welche dem Wanderburschen, dem „Jüngsten“, der das wahre Ich verkörpert, von seinen Lehrmeistern verliehen werden und ihm in höchster Not zustatten kommen. Solche Gaben legen wir dem Kind durch unsere aufrichtige, liebende Wertschätzung in die Seele. Diese schließt nicht aus, Grenzen zu setzen, wo sie gesetzt werden müssen. Indem wir die wahren Fähigkeiten unserer Kinder erkennen, helfen wir ihnen, an sich zu glauben. Ritalin hingegen entfremdet das Kind von sich selbst. Im Rahmen einer Untersuchung des Instituts für kindliches Verhalten und kindliche Entwicklung an der Universität Illinois wurden Kinder, die Ritalin einnahmen, über ihre Empfindungen befragt. Die meisten lehnten das Medikament ab oder hassten es. Häufigste Begründungen: Es verdarb ihnen die Lust am Spielen, machte sie traurig und gab ihnen das Gefühl, von etwas Fremdem kontrolliert zu werden, sich selbst nicht mehr zu kennen.

 

Wie kann der Ritalin-Boom gestoppt werden?

Meines Erachtens müssten wir die Sache als mündige Bürger selbst in die Hand nehmen und von unten her eine „Ritalin-Nein-Danke-Bewegung“ anstoßen. Es geht mir nicht darum, das umstrittene Medikament zu dämonisieren. Doch Ritalin sollte eine Option zur vorübergehenden Stützung in Extremfällen bleiben.

Erwachsene mögen es einnehmen, wenn sie sich frei dafür entscheiden. Aber verschonen wir unsere Kinder damit! Die breite und zum Teil unkritische Verwendung von Ritalin steht in auffälligem Kontrast dazu, wie wenig über die Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung und die langfristigen Folgen bei Einnahme im Kindesalter bekannt ist. Systematische Untersuchungen dazu fehlen. Der Verdacht auf schwere Spätschäden wie Parkinson konnte bisher nicht entkräftet werden.

 

Welche Therapie schlagen Sie stattdessen vor?

Diese Kinder bräuchten, wenn es mit rechten Dingen zuginge, keine Therapie. Denn Kindsein ohne Maske ist nicht pathologisch, wie man es auch dreht und wendet. Aber es geht nicht mit rechten Dingen zu. Deshalb benötigen viele Ludwige, Michels und Momos unserer Tage eine seelsorgerische, stützende, ermutigende, tröstende, wertschätzende Begleitung, um wieder an sich glauben zu können und der schleichenden Resignation zu entgehen. In zweiter Linie kommen dann vielleicht auch konzentrationsfördernde und behutsam verhaltenskorrigierende Maßnahmen in Betracht. Vor allem aber muss der Prozess der Entwicklung eines immer negativeren Selbstbildes unterbrochen und umgekehrt werden. Inzwischen scheint jedoch wieder in Vergessenheit geraten zu sein, dass es eine gesunde – wenn auch freilich unbequeme - kindliche Unbotmäßigkeit gibt, die wir als Eltern und Erzieher nicht anfeinden dürfen, sondern begrüßen und in kreative Bahnen lenken müssen und können. Funktionieren, vernünftig sein, sich unter Kontrolle haben, an Leistung gemessen werden: All dies bringt ein Kind nachhaltig aus der Fassung. Kinder sind mehr oder weniger ungehorsam, frech, abenteuerlustig, verträumt, wirklichkeitsfremd, undiszipliniert, unvorsichtig, schalkhaft, trotzig, unberechenbar, undankbar, maßlos, impulsiv, rauflustig, unlogisch, leicht ablenkbar, unordentlich, respektlos. Wer Kinder erziehen will, muss mit den genannten Eigenschaften im Prinzip sympathisieren. Man darf nicht voreilig das Kind aus dem Kind austreiben, sonst legt man Kraftquellen für das Leben trocken. Unsere Zeit sympathisiert nicht mit diesen Eigenschaften, sondern denunziert sie. Das macht die Kinder krank. Was mir wirklich am Herzen liegt: Wir müssen wieder den Blick für unsere Kinder frei bekommen und damit für ihre wirkliche Not in der heutigen Zeit.

Was können Eltern tun?

Sie sollten sich nicht irre machen lassen von all denen, die ihnen einreden wollen, es sei falsch, wie ein Fels hinter dem eigenen Kind zu stehen. Im Gegenteil. Es gibt Kraft für das ganze Leben, wenn man im Rückblick sagen kann: Damals, als ich von aller Welt verlassen war, standen meine Eltern unerschütterlich zu mir und ließen mich spüren: Du bist uns so, wie du bist, teuer. Wir hätten nie ein anderes Kind an deiner Statt haben wollen!

 

Es geht also darum, sich ein Gespür für die innersten Lebensleitmotive der kindlichen Individualität anzueignen. Dafür gibt es eine Bedingung: Wir müssen alle Bewertungen meiden. Nur dann können wir ein Auffassungsvermögen für den ganz und gar eigenen, unverwechselbaren Stil des Kindes entwickeln. In dem Maße aber, in dem uns dies gelingt, fühlt sich das Kind innerlich gehalten, gestützt, gestärkt. Eltern und Lehrer brauchen im Umgang mit hyperaktiven Kindern eine gewisse Unerschütterlichkeit und Gelassenheit. Das geht nicht ohne Übung. Denn nur indem wir Halt in uns selbst finden, können wir unseren Kindern Halt geben. Statt tausend Befehle zu erteilen und hunderttausend Grenzen zu ziehen, wirken wir dann allein durch unsere Anwesenheit ordnend, aufrichtend, Rücken stärkend.

 

Was ist das Besondere an hyperaktiven Kindern?

Sie sind extrem verspielt. Die motorisch über-aktiven unter ihnen, die uns an Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga erinnern, toben am liebsten draußen herum. Sie erkunden die Umgebung, probieren alles Mögliche aus, werkeln, buddeln, bauen, klettern, suchen, sammeln. Das ist ihre Welt. Auch großzügige Geländespiele und abenteuerliche Expeditionen lieben sie. Am liebsten tun sie das alles mit anderen zusammen. Die still verträumten hingegen, die uns an Michael Endes Momo erinnern, sind gern allein und lassen eine innere Welt aufleben, die sich auf zauberhafte Weise mit der Realität vermengt. Vielen vergeht unter Ritalin die Lust an alledem. Man muss sich das so recht klarmachen: Ein Kind bekommt Ritalin, funktioniert fortan in der Schule, kann aber nicht mehr spielen! Wer sich einen Sinn für Kinder bewahrt hat, braucht eigentlich gar keine weiteren Informationen, um das Medikament abzulehnen.

Hyperaktive Kinder gelten als leicht ablenkbar. Dabei gehört leichte Ablenkbarkeit im Prinzip zu den urkindlichen Eigenschaften. Aber warum wird immer nur der negative Aspekt herausgestrichen? Man könnte statt „leichte Ablenkbarkeit“ ebenso gut „ausschweifendes Weltinteresse“ sagen. Ich bezeichne diese Kinder gern als Sucherseelenkinder.

Ihre Grundregel ist die Suche: Was entdecke ich als Nächstes? Welche Überraschungen hält die Welt für mich bereit? Sie interessieren sich immer für alles. Das geht manchmal entschieden zu weit. Aber es ist im Kern eine wunderbare Eigenschaft. Man täuscht sich gewaltig, wenn man den Sucherseelenkindern ein Aufmerksamkeitsdefizit unterstellt. Was bei ihnen vorliegt – und was jeder Lehrer wissen muss – ist: Wenn sie ihre Aufmerksamkeit einer Sache, einem Vorgang oder einem Menschen zuwenden, tun sie es außerordentlich intensiv.

Sucherseelenkinder lassen sich nicht manipulieren und durchschauen jede Maske, jede unausgesprochene Absicht. Sie reagieren außerordentlich ungnädig auf Erwachsene, die mit psychologischen Tricks zu arbeiten versuchen. Eltern sollten sich deshalb stets fragen, ob ihnen selbst überhaupt klar ist, was sie genau wollen und warum sie es wollen. Ist sich der Erwachsene seiner Sache ganz sicher, geht eine Überzeugungskraft von ihm aus, die das Kind spürt.

Was brauchen diese Kinder vor allem?

Für das Wohlbefinden der Sucherseelenkinder ist vor allem entscheidend, ob sie ruhige, unerschrockene Menschen in ihrer Umgebung finden - Menschen, die sich nicht von ihnen bedroht fühlen, sondern gern mit ihnen zusammen sind. Wie alle Kinder brauchen sie emotionale Wärme und Wertschätzung, Aufmerksamkeit, eine kleine, übersichtliche, geschützte Welt, einen „heimatlichen Hafen“, Bezugspersonen, an denen sie sich moralisch orientieren können, Konsequenz, wo Konsequenz unerlässlich ist, und Freiheit, wo Freiheit gewährt werden kann. Sie brauchen Menschen in ihrer Umgebung, die liebevoll oder wenigstens respektvoll miteinander umgehen. Sie brauchen Ruhe und Zeit. Diese Förderung kollidiert mit dem heutigen Wahn, man müsse jede noch so geringfügige Abweichung von einer abstrakten Durchschnittsnorm sogleich korrigieren. In der heutigen Zeit und mit besonderem Hinblick auf die Hyperaktivitätsproblematik ist es außerdem wichtig darauf zu achten, dass genügend Freiräume für ungezwungenes Spiel gegeben sind, dass die Kinder ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben können, dass sie viel mit der Natur in Kontakt kommen und lange genug vor der Medienflut bewahrt werden.

 

Wie sollten Eltern mit ihrem Sucherseelenkind umgehen?

Eltern sollten, wann immer es die Situation zulässt, mehrere Möglichkeiten zur Wahl stellen: „Wir könnten heute Nachmittag spazieren gehen, im Garten arbeiten oder Spiele machen. Vielleicht arbeiten wir auch zuerst ein bisschen im Garten, spielen dann und backen anschließend Pizza. Was schlägst du vor?“ .

So erlebt das Kind, dass sein Wille respektiert wird und dass man auf seine Meinung Wert legt. Über Unvermeidliches sollte jedoch nicht verhandelt werden. Zum Beispiel darüber, dass die Hausaufgaben gleich nach dem Essen oder nach der Mittagsruhepause gemacht werden. Eltern sollten sich vor allem zu einer gewissen Großzügigkeit hin erziehen, was die vielen kleinen Unordentlichkeiten, Nachlässigkeiten und Vergesslichkeiten des Kindes betrifft. Ich rede keiner Laisser-faire-Haltung das Wort. Aber es vergiftet das Familienklima, wenn man sich allzu sehr über diese Dinge echauffiert. Und der Effekt ist gleich Null. Sucherseelenkinder lernen nur sehr langsam, in ihrem unmittelbaren Umfeld Ordnung zu halten. Ansonsten rate ich, dem Kind eine überschaubare Zahl von kleinen Aufgaben zu übertragen. Eltern sollten keine Zuverlässigkeit erwarten, sondern selbst dafür sorgen. Beispiele: Mittags räumen wir zusammen den Tisch ab. Abends treffen wir ein paar Vorbereitungen für den nächsten Tag, damit wir morgens keinen Stress haben. Jeden Mittwoch von 13 Uhr bis 13.30 Uhr ist gemeinsame Kinderzimmeraufräumzeit. Wichtig ist hier die ruhige Konsequenz der Eltern.

 

Was gehört darüber hinaus zu einem geordneten Tagesablauf?

Vor allem aber geht es darum, im Tages- und Wochenlauf verlässliche Zeitinseln der zwischenmenschlichen Wärme zu schaffen. Inseln der Zweisamkeit, des familiären Miteinanders. Beziehungspflege ist nämlich die wahre Therapie. Der liebevoll gestaltete Tagesbeginn und der schöne Abendabschluss mit Geschichte, Tagesrückblick, Musik und Gebet zum Beispiel kann für alle – auch für die Eltern – zu einer Oase werden. Sucherseelenkinder haben das Problem, dass sie schlagartig einschlafen und aufwachen. Deshalb ist es wichtig, die Übergänge zu gestalten. Das gibt ihnen ein ganz anderes Lebensgefühl. Weitere Glanzpunkte im Familienleben: Ein Backnachmittag – zum Beispiel jeden Dienstag mit anschließendem fürstlichen Schmaus -, ein Geschichten- und Spielenachmittag, ein Kasperletheater-Nachmittag, ein Waldnachmittag – zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Oder: Jeden zweiten Samstag darf das Kind lange aufbleiben, Spiele machen, Musik hören. Es gibt Gebäck, Kakao und zum Abschluss eine Mitternachtsgeschichte.

Zugegeben: Mit Sucherseelenkindern geht kein Tag vorbei, an dem es nicht das eine oder andere Mal kracht. Aber abends, wenn Eltern und Kinder gemeinsam den Tag beschließen, ist es Zeit, alles Entzweiende symbolisch in die Mülltonne zu werfen, die nachts von den Engeln entsorgt wird. Es geht nicht um eine sentimentale Versöhnungszeremonie, sondern einfach darum, nicht nachtragend zu sein: Morgen ist ein neuer Tag, und wir nehmen uns vor, dass es ein guter Tag wird.

 

Herr Köhler, wir danken Ihnen für das Gespräch!

www.adhs-konferenz.de

www.ads-kritik.de

www.janusz-korczak-institut.de

 

Buchtipps

Henning Köhler

War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört?

Immer häufiger hören Eltern, die mit ihrem «Zappelphilipp» in die Sprechstunde kommen, die Diagnose «ADS». Was ist ADS eigentlich, warum wird es immer häufiger diagnostiziert und mit Medikamenten therapiert? Der Heilpädagoge und Kindertherapeut Henning Köhler beschäftigt sich in diesem Buch mit dieser Problematik.Im ersten Teil des Buches geht er der Frage nach, warum Ritalin heute so massenhaft verschrieben wird und wie es wirkt. Er kommt dabei zu der Auffassung, dass sich hierin die Tragik unserer Zeit offenbart.

Im zweiten und dritten Teil seiner Darstellung gibt Köhler den Eltern Hilfestellung für das Verständnis und die Therapie der so genannten «ADS-Kinder». Dabei gilt es sowohl Begabungen zu erkennen und zu fördern wie auch Schwächen liebevoll wahrzunehmen und zu heilen.

Verlag Freies Geistesleben, 296 Seiten

Richard DeGrandpre

Die Ritalin-Gesellschaft

 

Das Medikament "Ritalin" gehört mittlerweile zu den meistverordneten Psychopharmaka. Für den Psychologen Richard DeGrandpre ein gefährliches Indiz dafür, wie die Tendenz zur Beschleunigung in unserer Gesellschaft und die Zunahme von Sinnesreizen unser Bewusstsein und das der Kinder verändern. Für ihn sind letztendlich die Kinder Opfer einer fatalen Entwicklung, auf die viele Ärzte und Erziehungsberater keine andere Antwort haben als die Verabreichung einer Arznei, deren Langzeitfolgen noch nicht absehbar sind.

Taschenbuch, 256 SeitenBeltz Verlag

 
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