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Wolfgang Bergmann: Was gerade Jungen heute brauchen

Bei Krisen im Erziehungsalltag brauchen Mütter und Väter keine methodischen Tricks und keine Elterntrainings. Sie müssen sich selber helfen, indem sie sich auf ihre Intuition verlassen und ihren Gefühlen Ausdruck verleihen – auch wenn diese noch so verschüttet sind. Liebe kann man nicht üben. Aber das Zeigen von Liebe – das kann man sich selber verordnen. Es hilft!“, sagt der Kindertherapeut und Psychologe Wolfgang Bergmann.

Wolfgang Bergmann, Kinderpsychologe mit eigener Praxis in Hannover, ist einer der bekanntesten Kindertherapeuten in Deutschland, Autor vieler Elternratgeber und ein gefragter Referent bei wissenschaftlichen Kongressen und Veranstaltungen über Erziehungsprobleme und Kindertherapie.

 

Spiel und Zukunft: Was ist los mit den Jungen des 21. Jahrhunderts?

Herr Bergmann: Immer mehr Jungen sind nervös, unkonzentriert, ängstlich und depressiv gestimmt. Darüber wird in Fachkreisen und in den Medien viel diskutiert. Doch viel ist dabei nicht herausgekommen. Obwohl feststeht, dass bindungsleere Verwöhnung oft die Ursache für die Probleme dieser Jungen darstellt. Hinzu kommt: Gerade Jungen sind heute einem verängstigenden und widersprüchlichen Leistungsdruck ausgesetzt. Sie sollen in der Schule funktionieren, zugleich aber ihren eigenen starken Willen zeigen. Der Junge soll in seiner Gruppe der Anführer sein, aber zu Hause auf Mama und Papa hören. Er soll einerseits lieb und anhänglich sein und andererseits „cool“ und selbstbewusst.


Was hat sich geändert?

Früher konnten sich Jungen bei ihren abenteuerlichen Spielen draußen sozusagen mit Freiheit sättigen. Satt von Freiheit, müde von Abenteuern kehrten sie dann umso bereitwilliger in die Familie zurück. Sie hatten sich beim Spielen verausgabt und sehnten sich nun nach dem Zuhause-Sein, nach Heimeligkeit und Wärme. Wenn die Eltern dann nach dem Abendbrot ein Würfelspiel herauskramten, war das der krönende Abschluss eines erlebnisreichen Tages. Heute sind die Interessenswelten der Eltern und Kinder extrem auseinander gefallen. In der Medienkultur gibt es nichts Generationen Übergreifendes mehr. Man hat sich nicht mehr viel zu sagen, hockt aber zusammen vor dem Fernseher – oft auch jeder in seinem Zimmer.


Welche Rolle spielen moderne Medien?

Neuere Studien der Jugendforschung haben ergeben: Schon Jungen im Grundschulalter kommunizieren den lieben langen Tag meist per Handy, Telefon oder Computer. Das tun sie weitaus ausgiebiger als Mädchen. Dies alles spiegelt das Bild der modernen Wirtschaft. Deren Verhaltenskultur ist in das Leben der Kinder eingedrungen. Die Familien und die Eltern mitsamt ihren Wertvorstellungen sind dagegen nur ein unzureichender Schutz und ein unvollständiger Filter.

Welche Folgen hat das?

Studien beweisen, dass Jungen stärker als Mädchen zum Wettbewerb neigen, raufen und ihre Kräfte messen möchten.

Doch am Handy, am Telefon und im Chat funktioniert das nicht. Die Kontakte dort sind nicht auf Auseinandersetzung eingestellt. Durch Handy, Computer und Telefon werden vielerlei Kontakte gehalten. Aber diese sind oberflächlich und jederzeit austauschbar. Es ist fast so, als vergewissere sich der Junge mit jedem Kontakt seiner Zugehörigkeit. Über die Inhalte und die Besonderheiten dieser Zugehörigkeit wird aber kaum nachgedacht.


Aber es gibt doch auch unter Jungen regelrechte Leseratten, die nicht täglich mit Freunden herumtollen wollen...

Ja, aber das hat gegenüber den neuen Medien eine ganz andere Qualität. Der kleine Junge, der sich mit Tom Sawyer unter Tante Pollys Tisch versteckt oder der mit Huck den Missouri herauf dampft und die Welt herausfordern will, bewegt seine Augen langsam und sorgfältig von Seite zu Seite, von Wort zu Wort. Er erschafft aus der Enge der Schrift einen eigenen Kosmos, nämlich den seiner Fantasie. Über das Gelesene kann der Junge mit den Eltern reden. Unsere Schrift ist eine phonetische. Die Kunst des Erzählens schwingt in ihr mit und prägt ihre Logik. Die konsequente Abfolge der Schriftzeichen ist so etwas wie die äußere Form dieser Erzähl-Tradition. Das Computerspiel hingegen enthält eine ganz andere Ordnung: die der Elektronik. Diese ist nicht folgerichtig, sondern gleichzeitig. Im elektronischen Raum sind alle Motive von Anfang an da, sie werden nicht entwickelt. Und die auftauchenden Figuren sind nur oberflächliche Erscheinungen. Sie verkörpern nichts und verschwinden so rasch wie Geister.


Heute spielen Mütter in der Erziehung oft die dominierende Rolle. Hat dies Auswirkungen auf Jungen?

Ja, und das Ganze hat seinen Ursprung in der Isolation der Kleinfamilie. Sie wurde vor allem in den Großstädten in einen immer engeren Lebensraum gezwängt. Und damit ist gleichzeitig eine Beziehungsverdichtung eingetreten. In dieser dichten Struktur spielen die Mütter für das Alltagsleben ihrer Kinder eine weitaus wichtigere Rolle als die Väter. Viele Frauen konzentrieren sich nahezu vollständig auf ihr Kind. Sie sollten dabei aber nicht außer Acht lassen: Die Bindung an den Vater geschieht immer vor dem Hintergrund der Bindung zur Mutter. Sich von Mama zu lösen, fällt dem kleinen Kind unendlich schwer. Da wirkt der Vater wie ein Rettungsanker. In ihm ist beides verkörpert: die Hinwendung des Kindes zur Welt und gleichzeitig – weil dieser Mann von Mama geliebt wird – die mütterliche Liebe. Nur der geliebte Vater ist ein Mann, bei dem das Kind sich geborgen fühlt. Auf seinem Schoß empfindet es die Nähe zur Mutter gleich mit. Wo diese Kreise gestört sind, wo der Liebesfluss von der Mutter zum Vater geblockt ist, da tritt auch im Bindungsverhalten des Kindes eine Blockierung ein.


Und wenn die Mutter ihr Kind allein erzieht?

Dann ist ein männlicher Ausgleich außerhalb des engen familiären Raumes umso wichtiger. Diese Rolle könnte der Großvater, ein Onkel, ein Nachbar oder der Betreuer – etwa eines Sportvereins oder der Pfadfindergruppe - ausfüllen. Darüber hinaus sollte es mehr männliche Erzieher im Kindergarten geben. Es ist interessant zu beobachten, wie vor allem kleine Jungen Zivildienstleistende umschwärmen, die in ihrem Kindergarten arbeiten. Das Gleiche gilt für Handwerker, die eine Zeitlang im Kindergarten tätig sind. Der Mann verkörpert für kleine Jungen ein Sehnsuchtsbild von Stärke und Abenteuer. Jungen identifizieren sich stärker mit dem eigenen Geschlecht als Mädchen. Deshalb sind männliche Vorbilder für die eigene Identitätsentwicklung und Rollenfindung von Jungen unerlässlich. Beobachtungen in Kindertagesstätten zeigen: Werden Aktivitäten von männlichen Betreuern angeboten, akzeptieren Jungen sie viel eher als wenn der Impuls von einer Betreuerin ausgeht – ganz gleich, um welche Aktivitäten es sich handelt.

Was macht es Eltern heute besonders schwer?

Junge Familien sind heute überwiegend auf sich selber gestellt. Verwandtschaftliche Bande gibt es kaum noch. Das Kind rückt dann in das Zentrum der Familie. Es wird verwöhnt, weil ansonsten die ständige Harmonie, die von den Eltern gewollt, aber unmöglich zu erreichen ist, in Gefahr gerät. Die Tragik, die auch zum Kindsein gehört – das Weinen, die Unzufriedenheit, das Trotzen – werden zu einer nahezu unerträglichen Störung. Die Tatsache, dass so viele Kinder heute Stunden ihrer Kindheit vor dem Fernseher verbringen, hat auch damit zu tun, dass dadurch Konflikte umgangen werden. Hinzu kommt, dass Eltern oft unsicher sind. Die Basis elterlicher Autorität ist mit der Veränderung der Arbeitswelt aufgelöst worden. Gewisse Normen und Wertvorstellungen früherer Generationen sind in einer von Medien geprägten Berufswelt und Freizeit nahezu verschwunden. Stattdessen bestimmen ersetzbare Einstellungen auch das Verhalten der Eltern. Für sie gilt am Arbeitsplatz eine andere Verhaltensnorm und –erwartung als zu Hause. Egozentrische Durchsetzungsstrategien, die Väter und Mütter in Trainingsprogrammen für das mittlere Management einüben, würden im privaten Bereich auf Ablehnung stoßen und zur Ausgrenzung führen. Aus der geringen Werte- und Bindungssicherheit folgt eine hohe Abhängigkeit von der Meinung anderer. Die Selbstdarstellung nach außen wird immer wichtiger. Auch dabei gibt es kaum verbindliche Werte, an denen man sich orientieren könnte.


Woran mangelt es in der Erziehung?

Es fehlen starke Eltern – stark genug zur Liebe auch in schwierigen Situationen. Und stark genug, ihrem Kind Halt und Orientierung zu geben. Dies bringen äußerst fragwürdige Erziehungssendungen, etwa die Super Nanny auf RTL, klar zum Ausdruck. Was dort wöchentlich gesendet und von vier Millionen Menschen regelmäßig gesehen wird, ist die Einübung in eine Misshandlung kindlicher Seelen. Man traut seinen Augen nicht. Da werden Kinder an den Beinen durchs Zimmer gezogen. Verzweifelte Mütter plagen sich mit ihrem schreienden Nachwuchs ab. Und man kann als Fernsehzuschauer seelenruhig die Entstehung eines kindlichen Traumas mitverfolgen. Die Entmachtung oder besser Selbstentwertung der Eltern bei gleichzeitiger Unterordnung gegenüber Experten fügt der allgemeinen Desorientierung noch eine weitere Facette hinzu: Kinder, die „nach dem Weg“ fragen, bekommen keine Antwort, sondern nur eine ganze Welle zusätzlicher Nebelschwaden in die kleinen Seelen gepustet. Natürlich setzen sie sich zur Wehr.


Was wird Ihrer Meinung nach vernachlässigt?

Wir haben gelernt zu vernachlässigen, was ein Kind kann, und uns daran gewöhnt, bezüglich seiner Schwächen ununterbrochen mit ihm zu üben. Ein Fehler. Denn es ist lernpsychologisch - aber auch im Sinn der Erziehungskunst -unendlich nützlich, die Stärken zu stärken, sich an der Klugheit des Kindes in diesem oder jenem Bereich zu erfreuen. Mütter und Väter, die Mut haben, starren nicht verängstigt und verstimmt auf die Schwächen ihres Kindes, sondern freuen sich an seinen Stärken im emotionalen, sozialen und intellektuellen Bereich. Wenn es Eltern gelingt, sich selber und dem Kind die Freude am Forschen und Entdecken nicht durch die penetrante Angst vor der nächsten Schulnote verderben zu lassen, dann stellt sich der Friede des Selbstbewusstseins in der Familie ein und stärkt das Kind. Dies macht sich dann auch in den Schulnoten bemerkbar.

Buchtipp

Wolfgang Bergmann: Kleine Jungs – große Not. Wie wir ihnen Halt geben.

Immer mehr Jungen sind unruhig, aggressiv und orientierungslos. Der erfahrene Therapeut Wolfgang Bergmann zeigt an vielen Beispielen aus seiner Praxis sehr anschaulich, welches Leid hinter einem solchen Verhalten stecken kann. Die Tatsache, dass viele Kinder in einer hauptsächlich weiblichen Umwelt aufwachsen, macht die Suche nach einer männlichen Identität für die kleinen Jungs sehr schwierig. Bergmanns Botschaft: Jungen brauchen eine andere Art von Förderung und Zuwendung als Mädchen.

Verlässliche Bindungen, Halt geben, Mitgefühl zeigen: Dieses Buch zeigt, wie Eltern und Erzieher Jungen – und auch Mädchen – zu einer stabilen Persönlichkeit verhelfen können. Wie in seinen anderen Büchern macht Wolfgang Bergmann sich auch in diesem für Kinder und Familien stark. Er warnt vor allen möglichen neuen Erziehungs-(Irr)lehren und zeigt Wege auf, die allein in der Liebe der Eltern zu ihren Kindern münden – der für Bergmann einzige Ausweg aus dem heutigen Erziehungsdilemma. Ein lesenswertes Buch – nicht nur für Eltern von Jungen!

Beltz Verlag, 179 Seiten

 
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