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Sprechen lernen

Dass „Ansprache“ nicht nur ein allgemeinmenschliches Bedürfnis ist, sondern eine grundlegende Voraussetzung für die gesunde Entwicklung von Kindern, darauf macht der Medienforscher und Pädagoge Rainer Patzlaff in seinen Vorträgen und Schriften schon seit langem aufmerksam. Und er ist keineswegs allein mit dieser Ansicht. Im Folgenden sollen seine Forschungen zum Thema vorgestellt werden.

Sprechen hat noch jedes Kind gelernt - davon gingen Eltern bislang getrost aus und lehnten sich entspannt zurück. Wie schön, dass es beim gesunden Kind diese selbstverständlichen Entwicklungsschritte gibt, um die man sich eigentlich keine Sorgen machen muss. Sitzen, Stehen, Gehen und eben auch das Sprechen lernen Kinder früher oder später von selbst, wenn sie nicht durch ungewöhnliche Einwirkungen daran gehindert werden.


Allerdings gilt diese Ansicht nicht mehr uneingeschränkt, denn in den letzten drei Jahrzehnten haben Sprachstörungen und -verzögerungen schon in der frühen Kindheit rapide zugenommen, so dass heute bereits jedes 3. oder 4. Kind in Deutschland im Vorschulalter Sprachprobleme aufweist.


Die Frage ist, wie kommt es dazu?

Wenn wir an Sprache und ihre Funktion denken, steht meist der Inhalt bzw. die Information im Vordergrund, die sie transportiert. Und wenn wir uns fragen, warum Sprache für Kinder wichtig ist, dann denken wir zuallererst an ihr Kommunikationsfähigkeit, an das, was man durch das Beherrschen der Sprache erfahren und lernen kann. Sprechen und Hören wird meist unter dem technischen Modell von Sender und Empfänger verstanden und entsprechend ist es im Computer-Zeitalter durchaus üblich geworden, von Gesprochenem und Gehörtem als Input und Output zu sprechen. Das kann dann zu solchen Argumenten führen wie dem, dass die perfekte Sprache und das breite Bildungsangebot des Fernsehens ideale Lernmittel für Kinder seien. Dabei wird aber lediglich die kognitive Ebene berücksichtigt, der übrige Mensch bleibt außer acht und damit auch wesent-liche Aspekte dessen, was Sprache beim Menschen bewirkt.

Dass es bei Sprache ganz und gar nicht nur um die Übermittlung von Informationen geht, zeigt Rainer Patzlaff in seinem Aufsatz „Kindheit verstummt!“. Denn Sprache ist nicht gleich Sprache, nur weil der Inhalt der gleiche ist. Entgegen den Ergebnissen der Physik muss es einen entscheidenden und absolut grundlegenden Unterschied zwischen unmittelbar gesprochener Sprache und Lautsprechersprache geben. Denn die Wirkung beider unterscheidet sich dramatisch. Eine zehnjährige Untersuchungsreihe, die 1996 in Großbrittanien vorgelegt wurde, weist dies in eindrucksvoller Weise nach.
Sally Ward, eine der führenden britischen Wissen-schaftlerinnen auf dem Gebiet der Sprachentwicklung von Kindern, fand heraus, dass 20% der untersuchten Kinder im Alter von 9 Monaten bereits Entwicklungs-rückstände aufwiesen, wenn sie fernsahen. Bei Fortsetzung des Fernsehkonsums war im Alter von 3 Jahren ihre sprachliche Entwicklung bereits ein Jahr im Rückstand. Das heißt, die Kinder hatten die Sprache eines Zweijährigen. Waren die Eltern einsichtig und ließen das Baby nicht weiter fernsehen, hatten die Kinder nach 4 Monaten (also mit gut einem Jahr) den Entwicklungsrückstand wieder aufgeholt - durch nichts, als das Abschalten des Fernsehers und das direkte Sprechen mit den Eltern!

Es gibt also einen dramatischen negativen Einfluss von Lautsprechersprache auf die sprachliche Entwicklung und eine ebenso starke, jedoch positive Wirkung von echter Sprache. So stellt sich die Frage: was unterscheidet die beiden eigentlich? Warum wirkt das eine entwicklungs-hemmend und das andere entwicklungs-fördernd?

Es geht ganz offensichtlich nicht in erster Linie nur um Informationsübermittlung, sondern um einen viel umfassenderen und bedeutenderen Vorgang.


Was geschieht eigentlich beim Sprechen und Hören von Sprache?

Die Kinesik (Wissenschaft, die die Verständigung ohne Sprache mit Mimik, Gestik und Körpersprache erforscht) machte mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitskameras die faszinierende Entdeckung, dass Menschen keineswegs nur mit Mund und Kehlkopf sprechen, sondern dass der ganze Körper das Sprechen mit mikroskopischen Bewegungen begleitet - vom Kopf bis zum Fuß. Und noch überraschender, so Patzlaff, war die Feststellung, "dass der Hörer seinerseits auf die wahrgenommene Sprache mit eben denselben feinen Bewegungen antwortet, [ ... ] ebenfalls vom Kopf bis zu den Füßen, mit einer minimalen Zeitverzögerung von 40-50 Millisekunden, so dass eine bewusste Reaktion auszuschließen ist“. Patzlaff folgert daraus, dass gehörte Sprache den Menschen zuerst unbewusst über die Bewegung erfasst. Diese Beobachtung wird von den Untersuchungen des amerikanischen Wissenschaftlers Condon gestützt, der feststellte, dass Säuglinge schon von den ersten Tagen an mit Mikrobewegungen des ganzen Körpers auf Sprache reagieren - gleichgültig ob es sich um Chinesisch oder Englisch handelt.

So gilt also schon für Babys, wie auch für den erwachsenen Menschen: Sprache wird nicht nur mit den Ohren aufgenommen und vom Gehirn „verstanden“, sondern der ganze Mensch nimmt das Gesprochene wie ein Resonanzkörper auf und besonders der Kehlkopf spricht und singt fortwährend mit, was der andere spricht und singt. Dies gilt interessanterweise ausschließlich für sinnerfüllte sprachliche Laute, nicht für Geräusche oder zusammenhangslose Vokale - und auch nicht für technisch reproduzierte Sprache. So lernt ein Kind also zunächst über das ganz unbewusste Mitschwingen allmählich Sprache zu bilden, was in sich ein hochkomplizierter Bewegungsprozess ist. Patzlaff spricht davon, dass man entsprechend beim Sprechen lernen nicht von „Nachahmung“, sondern von „Mitahmung“ sprechen müsse.

Sprache wird in drei Schritten aufgenommen, wobei in den herkömmlichen Betrachtungen meist nur der letzte Schritt in Betracht gezogen wird. Zuerst wird Gesproche-nes also unbewusst über den Bewegungsapparat aufgenommen und wirkt dort. Dann erfasst die Sprache die Ebene des Fühlens, wo halbbewusste Reaktionen auftreten - wie Sympathie oder Antipathie, Spannung oder Entspannung, Freude oder Ärger. Und erst im dritten Schritt dringt sie ins Bewusstsein des Menschen vor, wird gedanklich erfasst und verstanden


Folgt man diesen Erklärungen, dann liegt es auf der Hand, warum es heute so gehäuft zu Verzögerungen oder Störungen in der Sprachentwicklung von Kindern kommt. Und auch die bekannte Tatsache, dass Sprachprobleme bei Kindern sehr häufig mit motorischen Schwierigkeiten einhergehen, ist nach Patzlaffs Ausführungen besser zu verstehen. Wobei er darauf hinweist, dass natürlich hierbei noch weitere Faktoren, die durch unsere moderne Lebensführung bedingt sind, eine Rolle spielen.

Ärzte, Logopäden, Lehrer und Wissenschaftler sind sich weitgehend einig darüber, dass die Hauptursachen für die massive Zunahme an Sprach- und Entwicklungsstörungen in unseren veränderten Lebensbedingungen - ganz konkret in der zunehmenden Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern und in dem immer weiter zunehmenden Einfluss der Medien zu suchen sind.

Denn wir sprechen tatsächlich immer weniger miteinander und das Gespräch miteinander wird immer häufiger durch das Fernsehen, CD-Hören oder Computerspielen ersetzt. Mehrere Stunden des täglichen Familienlebens vergehen so in weitgehender Passivität und „Sprachlosigkeit“ von Eltern und Kindern.

Aber kann man deshalb schon von "Sprachlosigkeit in Familien" sprechen? Alle Eltern sprechen doch mit ihren Kindern, ohne das funktioniert doch das Zusammenleben gar nicht. Machen wir uns jedoch einmal deutlich, wie gedrängt heute der Alltag häufig ist und wie wenig Zeit und Muße wir für einander haben, besonders wenn alle in Beruf, Schule, Kindergarten und Freizeitprogramm eingebunden sind. Bleibt da noch genug Zeit für gepflegten sprachlichen Austausch mit unseren Kindern, fürs Zuhören und Erzählen? Halbsätze und Anweisungen, kurzer Informationsaustausch - das sind wohl die sprachlichen Kommunikationsformen, die wir am häufigsten miteinander pflegen. Weshalb diese Faktoren einen so heftigen Einfluss auf das Sprach-vermögen der Kinder hat, das zeigen die Ausführungen von Rainer Patzlaff in beeindruckender Weise.


Über den Autor:

Dr. Rainer Patzlaff war lange Jahre Lehrer in Stuttgart, arbeitete nebenbei im Bereich der Medienforschung und ist nun Leiter des Instituts für Pädagogik, Medien- und Sinnesökologie (IPSUM) in Stuttgart

Näheres unter: www.ipsum-institut.de

Buchtipps


Rainer Patzlaff

Der gefrorene Blick

Rainer Patzlaff untersucht die unbewusst bleibenden Wirkungen des Bildschirms auf den Menschen und schildert die Folgen des Fernsehens für die kindliche Entwicklung. Elektronisch erzeugte Bilder greifen tief in die Physiologie des gesamten Körpers ein. Vor allem auf dem Gebiet der Sprachentwicklung stellen sich auf Dauer oft schwerwiegende Störungen ein.Der Autor gibt daher Anregungen, wie der Benutzer seine Freiheit und Eigenaktivität dem Fernsehen gegenüber stärken kann. Vor allem Eltern finden wertvolle Gesichtspunkte, zu Fragen wie: Fernsehen – ab welchem Alter? Wie kann ich mein Kind zu einem bewussten, selbst bestimmten Umgang mit dem Fernsehen führen?

 

Rainer Patzlaff

Kindheit verstummt - Sprachverlust und Sprachpflege im Zeitalter der Medien

Der Medienberater und Mitbegründer des Ipsum Institutes Rainer Patzlaff diagnostiziert die Sprachentwicklungs-störungen im Vorschulalter und geht deren Gründen auf die Spur. Er räumt hier mit dem große Missverständnis auf, dass CDs, Kassetten und Fernseher die Sprache von Kindern fördern könnten und zeigt, wie sehr der Erwerb und das Können unserer Sprache im wahrsten Sinne des Wortes "Bewegungskunst" ist und davon abhängt, dass Sprache lebendig ist und Eltern und Erzieher selbst mit den Kinder sprechen und ihnen vorlesen. Aufklärend und unmissverständlich.


Dieses Heft entstammt der Reihe "Recht auf Kindheit - Ein Menschenrecht". herausgegeben von der "Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten".


 
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