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Gerald Hüther: So lernen Kinder

Ein Interview mit Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther. Er ist Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und zählt zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet der experimentellen Hirnforschung.

 

Wie beginnt das Lernen?

Prof. Hüther: Bei der Geburt eines Kindes ist das Gehirn noch recht unreif. Denn es haben sich zwischen den Abermillionen von Nervenzellen nur einige wenige Verschaltungen entwickelt, die zum Überleben während der ersten Lebensphase unbedingt erforderlich sind. Alles andere muss hinzugelernt und als neue Erfahrungen im Gehirn abgespeichert werden. In den verschiedenen Bereichen des Gehirns bilden sich zunächst Verschaltungen in einem Maße, dass es einen riesigen Überschuss gibt. Erhalten bleiben nur diejenigen, die auch wirklich benutzt werden. Der Rest wird wieder abgebaut. Vor diesem Hintergrund betrachtet, wird klar, warum Kinder in den ersten Lebensjahren so viel lernen wie nie wieder in ihrem späteren Leben.

 

Welche Voraussetzungen brauchen Babys zum Lernen?

Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Sie brauchen jemanden, der sie wärmt, nährt, pflegt und sich mit ihnen beschäftigt. Und immer dann, wenn sie Angst haben, brauchen sie jemanden, der ihnen beisteht und ihnen zeigt, dass es möglich ist, diese Angst zu überwinden. Ein Baby lernt zum Beispiel: „Wenn ich mich unwohl fühle und weine, kommt die Mama sofort und tröstet mich.“ Diese enge Bindung vermittelt dem Kind Sicherheit und Geborgenheit: eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ein Kind bereits im ersten Lebensjahr viel Neues ausprobieren und die dabei gemachten Erfahrungen im Gehirn fest verankern kann.

 

Wie prägen sich schon kleinen Kindern Dinge ein?

Jede neue Wahrnehmung erzeugt im Gehirn ein entsprechendes Bild in Form eines bestimmten Erregungsmusters. Das Kind versucht dann, ein bereits vorhandenes Erinnerungsbild zu aktivieren, das irgendwie zum neuen passt. Stimmen beide völlig überein, erkennt das Kind den neuen Eindruck und reagiert darauf mit einer gewohnten Reaktion. Gibt es keine Gemeinsamkeit, passiert gar nichts. Interessant wird es, wenn das aus dem Gedächtnis abgerufene Bild zumindest teilweise zum neuen passt. Das alte Bild wird dann so lange umgestaltet, bis das neue passend eingefügt werden kann. Dann hat das Kind etwas hinzugelernt.

 

Was ist beim Lernen besonders wichtig?

Entscheidend ist nicht, dass Kindern möglichst schnell bestimmte Leistungen beigebracht werden. Hier geht es um etwas ganz anderes. Damit Kinder das erworbene Wissen auch wirklich einordnen und nutzen können, müssen sie es mit ihren bisherigen Erfahrungen in Beziehung setzen können. Ein wunderbarer Leitsatz, den ich gern zitiere: „Alles, was dazu führt, dass sich die Beziehungsfähigkeit von Menschen verbessert, ist gut fürs Hirn und dient der Gemeinschaft. Alles, was die Beziehungsfähigkeit von Menschen einschränkt und unterbindet, ist schlecht fürs Hirn und schadet der Gemeinschaft.“ Mit Hilfe dieses Leitsatzes können wir alle Entscheidungen, die wir in unserem Leben treffen, auf die Waagschale legen.

 

Welche Rolle spielen Werte wie Achtsamkeit und Rücksichtnahme bei der Entwicklung des Gehirns?

Eine sehr wesentliche. Ein Beispiel: Mit Hilfe der Computer gestützten Positronen-Emissions-Tomographie lässt sich am Gehirn achtsamer und unachtsamer Menschen ablesen, wie deutlich sie sich bei der Benutzung ihrer Gehirne unterscheiden. Unachtsamkeit etwa ist eine Haltung, die nicht viel Hirn beansprucht. Wem es gelingt, künftig etwas achtsamer zu sein, der wird automatisch bei allem, was er fortan wahrnimmt und was er bei seinen Entscheidungen berücksichtigt, mehr Hirn benutzen als ein anderer, der weiterhin oberflächlich oder unachtsam mit sich selbst und mit allem umgeht, was ihn umgibt. Achtsamkeit ist daher eine ganz wesentliche Voraussetzung für eine andere, vorausschauendere Art der Benutzung des Gehirns.

Wie wirkt sich die Vernachlässigung einer wertorientierten Erziehung auf die kindliche Entwicklung aus?

Fatal. Wir leben in einer Zeit, in der sich ein Gefühl für den kontinuierlichen Fluss der Dinge kaum mehr einstellen kann. Alles, sogar unsere kulturellen Werte und Normen, ändern sich in rasender Geschwindigkeit. Die sozialen Beziehungen sind brüchig geworden, und nur noch wenige Menschen entwickeln sichere emotionale Bindungen. Grundhaltungen wie Achtsamkeit, Behutsamkeit, Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Einfühlungsvermögen und Verantwortungsbewusstsein können nur dort gedeihen, wo Menschen einander wichtig sind. Kinder, denen es nicht gelingt, solche inneren Haltungen auszubilden, bleiben orientierungslos. Sie sind den auf sie einstürmenden Vorstellungen anderer Menschen hilflos ausgesetzt. Es fehlt ihnen die Fähigkeit, eigene Wahrnehmungen und fremde Ideen selbständig zu bewerten. Sie bleiben in hohem Maß von den Meinungen anderer Menschen abhängig und sind dabei besonders leicht manipulierbar.

 

Wie kommen Kinder zu guten inneren Haltungen?

Aus sich selbst heraus kann ein Kind diese Haltungen ebenso wenig entwickeln wie die Fähigkeit, sich in einer bestimmten Sprache auszudrücken. Dazu braucht es andere Menschen, die diese Haltung zum Ausdruck bringen. Und, was noch viel wichtiger ist: Es muss mit diesen Menschen in einer engen emotionalen Beziehung stehen.

 

Prof. Hüther, wir danken Ihnen für dieses spannende Interview.

 

Prof. Hüther ist Mitbegründer von Win-Future, einem Netzwerk für die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus den Bereichen Erziehung und Bildung: www.win-future.de

 

Buchtipp

Gerald Hüther:

Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn

Wie müssen wir mit unserem Gehirn umgehen, damit es zur vollen Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten kommen kann? Dieser und anderen Fragen geht der Neurobiologe Gerald Hüther in einer leicht lesbaren, bildreichen Sprache nach.

Er gelangt dabei zu Erkenntnissen, die unser gegenwärtiges Weltbild erschüttern und die uns zwingen, etwas zu übernehmen, was wir bisher allzu gern an andere Instanzen abgegeben haben: Verantwortung.

Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen, 139 Seiten

 

 

Karl Gebauer / Gerald Hüther:

Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Erziehung

Immer mehr Kinder sind unruhig, unkonzentriert und ausschließlich auf sich selbst bezogen. Viele neigen bereits sehr früh zu Lern- und Verhaltensproblemen. Das alarmiert Pädagogen und Psychologen gleichermaßen.


Ohne Anregungen und ausreichende Zuwendung finden wichtige Gehirnentwicklungen nicht mehr statt. In diesem aufrüttelnden Buch werden erstmals die wesentlichen UOhne sichere emotionale Bindungen können sich Kinder nicht zu sozial kompetenten Persönlichkeiten entwickeln.rsachen von Verhaltensauffälligkeiten, Gewalt an Schulen und vielfältigen psychischen Störungen benannt und Lösungswege aufgezeigt.

Walter Verlag, Düsseldorf, 216 Seiten

 
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