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Kinder brauchen Matsch

Foto: Christoph Otto

Ein Gespräch mit Andreas Weber

 

„In mancher Hinsicht ist das freie Spielen eine Naturerfahrung. Hier können Kinder Autonomie und Gemeinschaft erleben und ihren Erfindungsgeist auskosten, auch mitten in der Stadt. Ungebunden Abenteuer zu erleben, das ist bereits Wildnis – auch zwischen Hinterhofmauern. Heute aber werden Kinder von den meisten Welterfahrungen isoliert. Ständig werden sie mit dem Auto irgendwohin kutschiert – und verbringen folglich sehr viel Lebenszeit im Auto oder zu Hause vor Spielkonsole und PC“, bedauert der Philosoph und Biologe Andreas Weber.

Andreas Weber, Jahrgang 1967, hat in Hamburg, Berlin, Freiburg und Paris Philosophie und Biologie studiert und arbeitet als Journalist und Schriftsteller. Für seinen Essay „Lasst sie raus“ – erschienen in GEO, erhielt er im Jahr 2010 den Deutschen Reporterpreis. Andreas Weber lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin und Ligurien.

Die Natur – so scheint es – verschwindet mehr und mehr aus dem Lebensraum unserer Kinder. Woran liegt das?

Unsere Kinder kommen mit Tieren und Pflanzen, mit Wildnis immer seltener in Kontakt. Die meisten Grundschüler haben noch nie eine Fledermaus oder ein lebendiges Huhn gesehen, geschweige denn berührt. Die Natur ist immer weniger Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit. Immer mehr Kinder – inzwischen mehr als die Hälfte weltweit – wachsen in städtischen Umgebungen auf. Ihr Leben ist von Technik und Verkehr derart dominiert, dass viele von ihnen nicht mehr allein vor die Haustür gehen, geschweige denn in einer wilden Umgebung spielen können. Mehr als die Hälfte der Stadtkinder Deutschlands spielt fast ausschließlich in geschlossenen Räumen – in der Wohnung oder im Kindergarten. Doch auch Landkinder streunen nicht mehr durch die Umgebung. Statt sich draußen in Fantasiewelten zu verlieren, versinken sie in künstlichen Szenarien, welche die elektronischen Medien ihnen vorgeben. In Deutschland starren Kinder zwischen drei und 13 Jahren im Schnitt fast anderthalb Stunden täglich in den Fernseher und fast ebenso lange auf den Computerbildschirm.

 

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Parallel zur Entfremdung der Kinder von der Natur hat unter ihnen die Zahl psychischer Leiden wie ADHS in den letzten zwei Jahrzehnten sprunghaft zugenommen. Diese Leiden werden aber kaum mit einer erhöhten Dosis von Selbstbestimmung therapiert, sondern vornehmlich durch Medikamente. Dabei müssten wir nur hinsehen, um zu begreifen, was Kinder brauchen: Sie zeigen ihren angeborenen Suchinstinkt nach der Natur und nach der Nähe anderer Wesen im frühesten Alter.

 

Wie macht sich dieser Suchinstinkt nach der Natur bemerkbar?

Wenn Kinder sprechen lernen, so artikulieren sie bald nach den Wörtern für Mama und Papa Tiernamen – Hund, Katze, Ente, Pferd, Kuh. „Animalische Charaktere sind das Rohmaterial, aus dem Kinder ein Gefühl für ihr Selbst konstruieren“, meint die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Gail Melson. Und das in allen Kulturen zu allen Zeiten. Eines der ältesten erhaltenen Spielzeuge ist eine bronzezeitliche Tonrassel, besetzt mit Fuchsköpfen, Vögeln, Hunden und hölzernen Krokodilen, 1000 Jahre vor Christus in Ägypten gefertigt. Melson glaubt, dass kleine Kinder Tiercharaktere in ihrem Denken ähnlich einsetzen wie Jäger- und Sammlerkulturen ihre animalischen Totems – als sichtbare Manifestationen von unsichtbaren Gefühlen und Beziehungen. Die Träume der Kleinen, die von Tieren wimmeln, könnten danach Rückblenden in eine prähistorische Vergangenheit sein – in die Zeit, in der wir in unserer Eigenart als Menschen entstanden. Gerade weil diese Symbole aus einer Tiefe unserer Psyche stammen, auf die wir kaum Zugriff haben, könnten sie für die innere Entwicklung unentbehrlich sein.

So ist es auch kein Wunder, dass drei Monate alte Babys sich bevorzugt Bewegungsreizen zuwenden, die von lebenden Wesen, nicht von Automaten, stammen. Und ein Säugling schaut, wenn man ihm die Wahl zwischen einem wirklichen Kaninchen und einer Holzschildkröte lässt, häufiger und länger auf das echte Tier.

 

Zurück zur Natur! Steckt hinter einem solchen Slogan mehr als der Wunsch nach Romantik?

Ja, hinter diesem Slogan ein wichtiger  Erkenntnisstand der Gehirn- und Seelenforschung. Nach diesem ist Spielen in der Natur relevant für die Befriedigung der emotionalen, aber auch der kognitiven Bedürfnisse von Kindern. Wird ihnen die Freiheit verwehrt, unkontrolliert von Erwachsenen in einer von selbst gewordenen Welt – nicht einer künstlich gefertigten – Erfahrungen zu machen, können Kinder zentrale Fertigkeiten nur sehr schwer entfalten. Ohne die Nähe zu Pflanzen und Tieren verkümmert ihre emotionale Bindungsfähigkeit, schwinden Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude. Von der Natur isolierte Kinder erfahren nicht das Gefühl von Zugehörigkeit zur belebten Welt, das für die seelische Entwicklung unverzichtbar ist.

 

Welche Rolle spielen Eltern in diesem Zusammenhang?

Sie machen sich zu viele unnötige Sorgen. Diese verengen nicht selten die Spielräume ihrer Kinder. Wie dramatisch das Recht von Kinder gezügelt worden ist, in Freiheit herumzustreifen, zeigt das zufällig untersuchte Beispiel einer Familie im britischen Sheffield, das sich auch bei uns wahrscheinlich zig mal so oder ähnlich zugetragen hat: Der Urgroßvater war in den 1920er Jahren im Alter von acht Jahren zehn Kilometer zu seiner Lieblingsstelle marschiert. Sein Schwiegersohn durfte nach dem Krieg, ebenfalls acht Jahre alt, durch den anderthalb Kilometer entfernten Wald streifen. Auch zur Schule ging er allein. Dessen Tochter stand es in den 1970er Jahren immerhin frei, mit dem Rad durch die Nachbarschaft zum Schwimmen zu fahren. Ihr eigener Sohn jedoch, ebenfalls acht, darf sich allein nur bis ans Ende der Straße bewegen – und wird mit dem Auto zur Schule kutschiert. Fragt man Eltern, warum sie ihren Kindern das Leben bis zur Erfahrungstaubheit erleichtern, so lautet die Antwort meist: Angst, dass die Kleinen sich beim Toben im Freien verletzen, Angst, dass sie entführt werden oder dass ihnen im Straßenverkehr etwas zustoßen könnte.

Selbst wenn draußen genügend Spielmöglichkeiten zur Verfügung stehen, sehen Eltern ihre Kinder lieber zu Hause. Eine holländische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich Kinder heute erheblich seltener außerhalb der vier Wände aufhalten als noch vor einer Generation. Sie verlassen kaum die direkte Umgebung des elterlichen Hauses und treffen dabei auch weniger Spielkameraden als früher. Wir alle – Eltern und Gesellschaft – sind in den seltsamen Wahn verfallen, alle Risiken kontrollieren zu wollen.


Hinzu kommen die vielen Freizeitaktivitäten unserer Kinder, die sie ja auch am freien Spielen hindern – oder?

Leider oftmals. Alle möglichen Kurse sollen dem Nachwuchs einen Platz im ersten Rang der Wettbewerbsgesellschaft garantieren. So sind die Kleinen heute zu Bewohnern der Autorücksitze geworden, werden von Aktivität zu Aktivität gefahren und schon im frühesten Kindesalter verplant. Dabei ist es gerade das Unvorhersehbare, das Kinder beim Spiel im Freien fasziniert. Es gewährt ihnen Freiheit – und somit die Reifung zur eigenständigen Persönlichkeit. Sein Fehlen engt die kindliche Existenz ein – trotz bester Vorsätze. In einer Welt, in der sich das Kind, wenn es allein ist, vor allem von Plagiaten des Lebens ernährt – in Form von Videospielen oder TV-Sendungen -, bleiben Eigenschaften auf der Strecke, die wir mit gelungenem Menschsein verbinden. Zu diesen Eigenschaften, die als Ausdruck von Reife am Ende der elterlichen Erziehung stehen sollen, gehören Autonomie, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, das Meistern von Risiken und Problemen, Fantasie und Kreativität, schöpferisches Denken und spontane Bezogenheit zu Menschen und anderen Wesen der Welt. Es ist bemerkenswert, dass Kinder genau diese Eigenschaften und Fähigkeiten suchen. Sie haben einen Instinkt für das Richtige, eine Intuition für die passende kognitive Nahrung.

Aber möchten nicht alle Eltern ihrem Kind diese Fähigkeiten mit auf den Weg geben?

 

Ja, aber es sollte uns zu denken geben, dass wir die Felder, auf denen Kinder sich diese Fähigkeiten allein aneignen, zunehmen blockieren: die von selbst auflebende Natur, das freiheitliche Spiel in der Wildnis, die ungeplante, ungesteuerte Zeit. Kinder drängen aus sich heraus zu dem hin, was die Erwachsenen ihnen in Form von Druck, Konformismus und Regeltreue mühsam antrainieren wollen. Was in der ständig beschleunigten Gegenwart verschwindet, ist somit nicht nur Natur, sondern der Raum, in dem Kinder ganz von allein zu Menschen werden. Was wir brauchen, ist mehr Vertrauen in diese Fähigkeit – und das Zutrauen, dass sie sich von allein einstellt.

 

Wie ist es in diesem Zusammenhang um die oft zitierte Nachhaltigkeit bestellt, die wir dringender denn je brauchen?

Ohne die lebendige Erfahrung der Natur müssen alle Ökoappelle Lippenbekenntnisse bleiben. Wie sollen Kinder sich je für eine nachhaltige Lebensweise entscheiden können, wenn sie die Wirklichkeit von Nachhaltigkeit gar nicht mehr kennen – und unwiderruflich nicht mehr spüren? Kinder verkümmern, wenn man ihnen die Natur nimmt. So verarmt auch die Gesellschaft. Dass Kinder sich der Natur zusehends entfremden, hat das Potenzial einer zivilisatorischen Katastrophe. Denn wer soll die Natur, deren Sauerstoff uns atmen lässt, deren Nährstoffe wir brauchen, künftig bewahren, wenn Kinder nicht mehr wissen, dass das Netz des Lebens Teil ihrer selbst ist.

Sie sagen, dass Natur ein Spiegel ist, in dem ein Kind sich selbst erkennt. Wie ist das gemeint?

Als Teil des Ganzen. So wie Kinder ihr Modell von Menschlichkeit von jenen übernehmen, die sie lieben, so übernehmen sie von anderen Lebewesen das Gefühl aktiver Lebendigkeit. Andere Wesen, ja selbst Flüsse, Steine und Wolken lehren die Kinder eine Form der Selbsterkenntnis, die sie in einer allein von Menschen gemachten Welt nicht erwerben können. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther sagt, dass unser Hirn ein Sozialorgan ist.

Es wächst und stellt neue Verbindungen her, wenn ein Kind Erfahrungen macht. Je komplexer die Umgebung, je vielfältiger die Beziehungen, die es in ihr eingehen kann, desto intensiver das kognitive Wachstum. Und bei jeder neu gebahnten Nervenverbindung schüttet das Gehirn beglückende Botenstoffe aus. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat einmal gesagt, dass Leben ein Erkenntnis gewinnender Prozess ist. Und je verschiedener ein Gegenüber sei, in dem sich ein Kind bei diesem Prozess spiegeln könne, umso vollständiger würde das Bild von sich selbst, umso tiefer gehe die Selbsterkenntnis.

Einem solchen Gegenüber begegnet das Kind nicht in künstlichen Objekten. Es findet dieses Gegenüber nur in der Natur, die geworden ist, nicht gemacht, die aus vielfältigen Wesen besteht, die zu leben begehren und sterben können wie es selbst, die ein dichtes Netz von sinnvollen Verbindungen aufgebaut haben, nach denen auch das Kind fahndet. Die Natur – und sei sie so klein wie das Brachland einer Baulücke – ist eine lebendige Landschaft, in der sich zeigt, „dass das Große neben dem Kleinen wächst, das Morsche neben dem Vitalen“, wie Gerald Hüther es ausdrückt.

 

 

Was können Eltern tun, um ihrem Kind wieder mehr Lebensräume in der Natur zu schaffen?

Eltern sollten die Wildnis in ihrer Lebensumgebung zulassen – und die Unordnung erlauben, die damit einhergeht. Denn Wildnis zulassen heißt Freiheit zulassen. Nicht alle Flecken im Garten müssen gemäht und gestutzt werden. Eine Wiese soll wuchern dürfen. Kinder brauchen Ecken, in denen sie sich einrichten und eigene Landschaften aufbauen können – mit Matschhaufen, Seilen, Brettern, geschnittenen Ästen, einfachem Werkzeug. Der Garten sollte zum Erlebnisraum des Kindes werden. Ein Kubikmeter Muttererde kostet wenige Euro, eignet sich aber hervorragend als wilde Sandkiste, deren Ränder im Sommer von Mohn und Wicken überwuchert werden.

Wichtig: Kinder und Wasser sind untrennbar miteinander verbunden. Ein flacher Teich im Garten zieht alle möglichen Insekten und auch Frösche oder Molche an. Hier gibt es immer etwas zu tun und zu bestaunen, hier lassen sich unbekannte Tiere entdecken. Hier kann Schlamm für den Hausbau gewonnen werden. Eltern sollten zu Hause und im Garten tunlichst Gift vermeiden – etwa gegen so genannte Ungeziefer und Unkräuter. Wenn ein Kind das erlebt, nimmt es unterschwellig wahr: Die Natur ist böse und eine Gefahr, man muss sie sich vom Leibe halten und notfalls vernichten. Alte Obstgärten, ungemähte Wiesen und Brachland sind Freiräume. Sie wirken nicht nur als Begegnungsstätten mit anderen Wesen, sie bieten Kindern die Chance, spielerisch ihr Ich zu entfalten. Zwischen Bäumen und Steinen regiert sie kein Erwachsener. Hier bestimmen sie selbst, hier sind sie eigenständige Partner der Schöpfung. Andere Lebewesen treten Kindern als selbständige Akteure gegenüber, die sich nach ihren eigenen Gesetzen verhalten und die dabei von allen menschlichen Regeln unabhängig sind. Untersuchungen zeigen: In der Wildnis spielen Kinder anders. Während sie auf angelegten Spielplätzen eher sportliche Wettkämpfe inszenieren, ersinnen sie in unstrukturierten Räumen komplexe Abenteuer, die sich über Tage oder Wochen hinziehen können.

Herr Weber, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für die Redaktion.

 

Buchtipp

Andreas Weber: Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur

Wie riecht es im Wald? Wie fühlt sich ein Baumstamm an? Wie sieht ein Rotkehlchen aus? Statt Frösche zu fangen, Baumhäuser zu bauen oder mit beiden Händen im Matsch zu wühlen, sitzen Kinder vor dem Fernseher oder Computer. Ohne Nähe zu Pflanzen und Tieren aber verkümmert ihre emotionale Bindungsfähigkeit. Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude verschwinden. Andreas Weber hat ein beherztes Plädoyer für die Rettung der Kindheit geschrieben. Er ermuntert Eltern, mit ihren Kindern ein eigenes Gemüsebeet anzulegen, auch bei schlechtem Wetter nach draußen zu gehen und Brachen ausfindig zu machen, wo der Nachwuchs tun und lassen kann, was er will. Eine solche Schule der Sinne ist wichtiger als Faktenlernen. Spiel und Selbstbestimmung in einer von selbst gewordenen, nicht von Erwachsenen künstlich gefertigten Welt sind unabdingbar für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit. Ein aufrüttelndes, Mut machendes Buch, das in keiner Eltern- und Lehrerbibliothek fehlen sollte.

256 Seiten, 9,90 Euro, Ullstein Verlag, Berlin

 
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