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Was ist bloß mit Mama los?

© Kring Latif

 

Was Eltern tun können, wenn sie in seelische Krisen geraten

Ein Interview mit Karen Glistrup 


“Wir können Kinder nicht davor bewahren, die Krankheiten und den Schmerz Erwachsener zu erleben, doch können wir ihnen zur Verfügung stehen, damit sie dabei nicht einsam sein müssen.” Jesper Juul

 

Karen Glistrup ist Sozialarbeiterin und Paar- und Familientherapeutin. Sie arbeitet mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern und berät Fachleute zu diesem Thema. Mit Jesper Juul hatte sie mehrere Jahre lang eine wertvollen und inspirierenden Austausch. 

Sie lebt mit ihrer Familie in Ry, Dänemark.

Depression, Angst und andere seelische Krankheiten sind weit verbreitet, von wievielen Menschen sprechen wir in etwa?

Eine große Studie von Professor Frank Jacobi und anderen zeigt, dass etwa die Hälfte aller Menschen in Deutschland im Lauf ihres Lebens einmal seelisch erkranken. Die Universität Dresden stellte in einer anderen umfassenden Untersuchung fest, dass 4 von 10 Europäern und Europäerinnen an psychischen Problemen leiden. Psychische Erkrankungen werden zu einem schwerwiegenden Gesundheitsthema in Europa – ja, in der ganzen Welt. Die WHO schätzt, dass 121 Millionen Menschen weltweit von Depressionen betroffen sind.

Ängste und Depressionen werden trotz ihrer großen Verbreitung noch immer als sehr private Leiden betrachtet. Viele bekommen nicht die notwendige Behandlung, weil sie sich scheuen, zum Arzt zu gehen oder keinen Therapieplatz bekommen. Eine Depression oder andere psychische Krankheiten beeinträchtigen die Lebensqualität eines Menschen in ihrem Kern. Bei Depression beispielsweise sind Genuss und Lebensfreude reduziert oder die Menschen scheinen auch für ihre Kinder unerreichbar zu sein. Die ansteckende Wirkung, die ein Lächeln haben kann, bleibt aus. Die Wirklichkeit fühlt sich unwirklich an. Die Gedanken drehen sich im Kreis. Man kann sich leer und ziemlich wertlos fühlen. Es fällt schwer, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, weil man sich enorm zusammennehmen muss, um nicht zu zeigen, wie elend man sich fühlt.

In Ihrem Buch erklären Sie diese und andere Krankheitsbilder und sprechen über Stress, Flucht und Traumata als Auslöser. Müssen Kinder wirklich so genau Bescheid wissen?

Noch vor wenigen Jahrzehnten bestand im Großen und Ganzen Einigkeit darin, dass man Kinder in so traurige Dinge wie Krankheit und Tod nicht hineinziehen sollte. Man dachte, man würde die Kinder schonen, indem man solche Themen einfach verschwieg.

Heute wissen wir, dass Kinder viel mehr spüren und wahrnehmen, als wir ahnen. Vor allem, wenn etwas nicht stimmt. Dann sind sie ebenso besorgt wie interessiert daran zu erfahren, was in ihrem persönlichen Umfeld eigentlich vor sich geht.

Kinder spüren die Angst und Unruhe der Eltern quasi am eigenen Leib. Kinder sind stets in das Leben und die Krankheiten ihrer Eltern involviert. Was sowohl gute als auch schlechte Seiten hat. Doch weil wir uns so sehr wünschen, die Kinder nicht zu belasten, bilden wir uns manchmal ein, unsere Krankheit vor ihnen verbergen zu können.

Dazu kommt: Wer an einer psychischen Krankheit leidet, wird oft von Zweifeln und Sprachlosigkeit beherrscht. Wir finden nicht die richtigen Worte. Alles ist einfach zu viel. Auch scheuen wir es, alte Wunden wieder aufzureißen. Also schweigt man lieber. Doch Kinder spüren, dass etwas nicht stimmt.

In einer vom Verschweigen geprägten Realität versuchen Kinder, Bruchstücke aufzusammeln und zu einem sinnvollen Bild zusammenzusetzen. Es liegt in ihrer Natur, nach Zusammenhängen zu suchen: Was ist es, das ich spüre? Was geschieht da gerade? Was sagt meine Mutter? Was sagen die anderen? Wie hängt das alles zusammen? Sie fragen allerdings nicht, wenn wir nicht von uns aus das Gespräch mit ihnen suchen, weil sie spüren, dass es für uns schwer ist, darüber zu reden und sie uns darum schonen wollen.

Eltern sollten immer daran denken, dass Kinder viel mehr wahrnehmen, als sie sich vorstellen können.

Wäre es nicht besser, Kinder würden sich mit anderen Dingen beschäftigen?

Das tun sie ja hoffentlich trotzdem. Natürlich ist es auch eine gute Idee, Kinder auch durch schöne Erlebnisse abzulenken. Musik, Sport, Schule und Spiel sind für ihre Gesundheit von entscheidender Bedeutung. Aber ein absolutes Schweigen über die Krankheit ist schädlich.

 

Wäre es nicht besser, Eltern würden ihre Kinder beschützen und es verstecken, wenn sie über einen längeren Zeitraum beispielsweise eine Depression haben?

Nein, das sollten sie ganz sicher nicht. Es ist zwar vernünftig und verantwortungsvoll, Kindern unnötige Sorgen zu ersparen, doch wenn die Krankheit da ist, sollte man ehrlich sein. Wir wissen, dass Kinder viel mehr spüren und wahrnehmen, als wir ahnen. Kinder haben feine Antennen und merken sowieso, wenn etwas nicht stimmt!

Dann sind sie ebenso besorgt wie interessiert daran zu erfahren, was in ihrem persönlichen Umfeld eigentlich vor sich geht.

Kinder fühlen sich geborgener und sicherer, wenn die Menschen um sie herum ehrlich und glaubwürdig sind, als wenn sie ihre Gefühle und Nöte verstecken.

 

Wie erleben es Kinder, wenn Eltern in seelische Krisen geraten?

Das kommt darauf an, wie Eltern damit umgehen.

Kinder haben ein feines Gespür dafür, wenn mehr hinter einer Sache steckt, als gesagt wird. Deshalb versuchen sie, sich einen eigene Vorstellung davon zu machen, worum es in Wahrheit geht. Im ungünstigsten Fall reimen sie sich schlimme und die falschen Dinge zusammen.

Eine vage Ausdrucksweise “Mama ist müde oder Papa geht es nicht so gut” vieler Erwachsener sowie das Reden »um den heißen Brei« löst bei Kindern oft Besorgnis und Unruhe aus, weil sie ja merken, dass es um mehr geht als etwas Müdigkeit oder Unwohlsein.

Bei manchen Kindern löst eine unklare Situation oder gespannte Atmosphäre, zu der ihnen die Erklärung fehlt, einen solchen Stress aus, dass sie Symptome wie Angst, Schlafstörungen, allergische Reaktionen oder Kopf- und Bauchschmerzen entwickeln. Auch Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule oder in der Gemeinschaft mit anderen Kindern können die Folgen sein.

“Was ich habe, ist eine Krankheit und ich erkläre Dir, was das ist, so dass Du es verstehen kannst,” ist eine bessere Ansprache, denn Kinder sind von Natur aus sehr interessiert, sodass wir offen mit ihnen sprechen können.

 

Was kann man Kindern wie sagen?

Wir können durchaus die richtigen Wörter benutzen: Angst, Depression, Psychose, psychische Krankheit etc. Wir müssen uns nur Mühe geben, sorgsam zu erklären, was diese Wörter bedeuten. Man muss sie in einen Kontext setzen, den Kinder begreifen können und Zusammenhänge herstellen, warum man in seelische Nöte geraten ist. Eltern sollten ihre  Erklärungen nicht zu kompliziert machen, sondern stattdessen offen sein für die Gedanken, die sich das Kind macht und für seine Fragen.

Ein Bild oder ein Modell vom Gehirn kann eine Hilfe für Kinder sein um psychische Imbalance oder Krankheit zu illustrieren.

Ebenso wichtig ist es, dass die “normalen” Gespräche in der Familie stets aufrechterhalten werden, damit die psychische Erkrankung als ein Teil des Lebens verstanden wird, das die Familie eben teilt.
Familiengeschichten sind vielfältig, und wir sollten miteinander sowohl über die glücklichen als auch die weniger glücklichen Erlebnisse sprechen. Erstere sind es nämlich, die uns daran erinnern, wie viel Freude und Liebe wir füreinander empfinden.

Ganz wichtig ist: Eltern sollten verdeutlichen, dass eine psychische Erkrankung nicht von Dauer sein muss, sondern überwunden werden kann.

Kinder fühlen sich sehr schnell schuldig. Was können Eltern tun, um Kindern die Schuldgefühle zu nehmen?

Es ist äußerst wichtig, den Kindern gegenüber immer wieder zu betonen, dass sie an der psychischen Erkrankung eines Erwachsenen keine Schuld haben.

Offene und ehrliche Erklärungen über die Ursache des veränderten Verhaltens der Erwachsenen können Kindern diese Last abnehmen und sie robust für das Leben machen.

Eltern müssen den Kindern helfen, zu unterscheiden, welche Gefühle zu den Eltern und welche zu ihnen selbst gehören. Wenn sie alle Puzzleteile bekommen, fällt ihnen diese Unterscheidung leichter. Falls man sich bisher mit Notlügen beholfen hat, um die Kinder zu schonen, kann man beispielsweise zu ihnen sagen: »Entschuldigt bitte! Wir dachten, es wäre das Beste für euch …, aber …«

Erwachsene können dabei helfen, indem sie die Gefühle des Kindes »spiegeln«. Zeigen Sie dem Kind durch Stimme und Mimik, dass Sie es sehen, wahrnehmen und verstehen:

»Du Arme, was musst du für eine Angst gehabt haben!« »Ich kann sehr gut verstehen, wie traurig dich das macht!« Sie können ihm auch gern von Ihren eigenen Gefühlen erzählen: »Es tut mir leid, dass ich mit dir geschimpft habe. Das lag sicher auch daran, dass ich so müde war. Entschuldige bitte.«

Natürlich muss man dabei den Erfahrungshorizont der Kinder berücksichtigen. Was haben die Kinder bisher erlebt? Worüber werden sie sich wundern?

Was Eltern erzählen, muss für die Kinder einen Sinn ergeben und ihnen helfen, die Zusammenhänge zu begreifen. Das schafft Vertrauen.

Manchmal ist es einfacher, anhand von Bildern das zu zeigen, was sonst recht schwer zu erklären ist. Mein Buch und vor allem die Illustrationen sollen Eltern und Kindern  helfen, über ihre Gedanken und Gefühle ins Gespräch zu kommen. Denn das ist wichtig für die Gesundheit von Erwachsenen und Kindern.

 

Was kann Kindern passieren, wenn Eltern die Probleme ignorieren?

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass Kinder sehr viel lernen, indem sie das Verhalten ihrer Eltern beobachten. Manche ahmen deren Konfliktverhalten nach. Andere scheuen im Gegenteil jeden noch so kleinen Konflikt. Beide Muster sind ungesund. Da sie unbewusst ablaufen, kann man sie nicht kontrollieren. Darum erhöhen sie die Verwundbarkeit des Einzelnen.

 

Damit Kinder ihre eigenen Sorgen und Nöte ausdrücken können, brauchen sie also Vorbilder?

Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass die Familie der wichtigeste Ort für Kinder ist, wo sie Verhalten lernen. Wenn nicht hier, wo sonst sollen Kinder lernen, dass auch schmerzhafte Gefühle zum Leben dazugehören und man sie benennen und offen darüber sprechen darf?

Und ganz gleich, wie gut man seine Sache als Eltern auch macht, es ist keine Schande, sich für diese Gespräche professionelle Hilfe zu holen.

Schlechte Gewohnheiten zu ändern, mag oft schwer sein. Doch mit ein wenig Hilfe ist es absolut möglich, sein Verhalten zu ändern, einander zuzuhören, die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle der anderen zu respektieren, einen neuen Kontakt zu etablieren und »frische Luft« hereinzulassen.

 

Gibt es auch noch eine andere Dimension jenseits des Gepräches?

Der große Pädagoge Jesper Juul hat einmal gesagt: “Trost ist wichtig, doch trösten wir am besten, wenn wir einem Kind in der Realität, wie sie eben ist, nahe sind und zur Seite stehen. Gerne auch im Stillen, wenn unser ruhiger Atem unsere Gefühle durch den Körper strömen lässt. Für Kinder ist diese wortlose Sprache oft der größte Trost.”

Vielen Dank für das Gespäch!

 

Wenn Sie mehr über Karen Glistrup und ihre Arbeit erfahren möchten, klicken Sie hier: www.talk-about-it.eu

 

Buchtipps

Was ist bloß mit Mama los? Wenn Eltern in seelische Krisen geraten

Jedes 7. Kind erlebt seine Eltern in einer psychischen Krise. Hilflosigkeit, Schuldgefühle und vor allem Sprachlosigkeit sind dann meist an der Tagesordnung. Mit ausdrucksstarken Illustrationen und viel Hintergrundwissen hilft dieses Buch, aufzuklären und ins Gespräch zu kommen. Für Kinder und bis ins Erwachsenenalter.


Kösel Verlag, 2014

 
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