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Rainer Patzlaff: Wie werden Kinder medienkompetent?

Ein Interview mit Dr. Rainer Patzlaff, einem renommierten Medienforscher und Pädagogen. Die zentrale Frage des Interviews ist: Was ist Medienkompetenz und wie erzieht man Kinder zu kompetenten Mediennutzern. Außerdem gibt Patzlaff einen Leitfaden für den Umgang mit Medien in der Erziehung, von der frühen Kindheit bis ins Jugendalter hinein.



Herr Patzlaff, Sie sind den Medien gegenüber durchaus aufgeschlossen und gehören nicht zu den rückwärtsgewandten Kritikern, die die Medien generell ablehnen. Wenn Sie einen Leitfaden für Eltern geben sollten für den Umgang mit Medien in der Erziehung, wie würde der aussehen?

Zunächst einmal müsste ich eine grundlegende Einsicht schaffen, die den meisten heute noch nicht klar ist: Überall heißt das großgeschriebene Ziel "Medienkompetenz" und ich bin durchaus einverstanden mit diesem Ziel. Medienkompetenz werden wir als Erwachsene unbedingt brauchen, sonst sind wir Opfer und manipuliert. Wir müssen schon lernen, mit diesen Geräten umzugehen, wenn man nicht in die Steinzeit zurück will.

Aber die Frage ist: Wie erwirbt man Medienkompetenz? Die heutige Forschung, unterstützt von der Industrie, behauptet, wirkliche Medienkompetenz könne man nur dann erreichen, wenn man die Kinder möglichst früh an die Medien heranführe. Und das ist nun genau der falsche Schluss.

Zum Beispiel Josef Weizenbaum, der weltberühmte Erfinder des Eliza-Programms, also einer der Väter der Computerentwicklung, berichtet schon seit Jahren, dass die besten Computerprogrammierer, die er kennt, diejenigen sind, die in ihrer Kindheit noch keinen Computer gehabt haben, während die jüngere Generation, die mit dem Computer aufwuchs, an diese Spitzenleistungen nicht herankommt. Womit also sich zeigt, dass nicht mit dem Computer ein sehr guter Programmierer heranwächst, sondern ohne ihn. Und genauso zeigt sich, dass die wirklich kreativen Leute in der Industrie, Entwickler, Projektentwickler nicht die sind, die von früh an vor dem Fernseher hockten, sondern die, die erst spät oder wenig mit dem Fernsehen zu tun hatten.

Oder ein anderes Beispiel: Neuerdings beklagt sich die amerikanische Raumfahrt-Industrie, dass sie keinen geeigneten Nachwuchs mehr findet, weil die Leute viel zu wenig Kreativität mitbringen, kein räumliches Vorstellungsvermögen mehr haben, und, und, und ... alles Fähigkeiten, die am Fernseher und Computer gerade nicht auszubilden sind. So dass ich eigentlich sagen muss: Medienkompetenz entsteht nicht am Medium, sondern außerhalb des Mediums, sogar gegen das Medium. Das liegt daran, dass die menschliche Entwicklung nicht linear verläuft, sondern in Verwandlungsstufen, und diese Verwandlungsstufen muss man verstehen. Sie werden auch in der Forschung immer mehr verstanden, dahingehend, dass das, was später als kognitive Leistung auftreten soll, vorbereitet wird durch konkrete, handfeste Tätigkeiten mit den Sinnen und den Gliedmaßen. Ich halte demnächst einen öffentlichen Vortrag, da habe ich es so formuliert:"Intelligenz wird hand-greiflich erworben".

Es braucht erst die leibliche Tätigkeit, und die muss zunächst voll ausgebildet werden gemäß ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Das bedeutet: Eingliederung in die Dimensionen des Raumes durch den Gleichgewichtssinn, den Bewegungssinn, den Tastsinn. Eben diese Tätigkeiten werden aber am Bildschirm mehr oder weniger unterbunden bzw. gar nicht angesprochen. Die Eingliederung in die Welt der physischen Realität, die kann vor dem Bildschirm kaum mehr stattfinden, das Kind erlebt nur eine Abstraktion davon: Was es sieht, ist flächig, man kann es nicht anfassen, nicht riechen, schmecken, nicht tasten, aber gerade das braucht das Kind, um sein Gehirn auszubilden.

Insoweit muss ich sagen: Gerade der Umgang mit dem Fernsehgerät ist für kleine Kinder kontraproduktiv. Wenn man nachher medientüchtige Menschen haben möchte, dann sollte man ihn möglichst vermeiden und andere Dinge mit dem Kind tun.

Heißt das also, Sie befürworten in der frühen Kindheit gar keinen Umgang mit Fernsehen und Computer?

Ja. Eben um die Grundlagen zu legen für eine wirkliche Medienkompetenz im späteren Alter. Dieses Alter beginnt mit dem Verwandlungsvorgang, den man in der anthroposophischen Pädagogik den Rubikon nennt, also mit 9 Jahren beginnend, bis hin zur eigentlichen Pubertät. Da setzt dann ein großer Umschwung ein, bei dem das Seelenleben ganz stark nach innen geht und dadurch eine völlig neue Situation eintritt, weil das Kind nun nicht mehr die Einheit mit den Dingen sucht, sondern sich getrennt fühlt – hier ich, dort die Welt. Und ab dem Moment sind Medien zeitgemäß. Das ist auch der Moment, wo die Bekanntschaft mit Medien richtig und sinnvoll ist und auch in aller Regel gewünscht wird, also wo dann auch instinktiv die jungen Menschen auf die Medien zugehen.

Was dann allerdings einsetzen muss, ist eine bewusste Pflege dieses Zugangs zu den Medien, und das bedeutet ein großes pädagogisches Kunststück, weil es dann ja schon anfängt, dass die jungen Menschen von den Eltern nur noch ungern Belehrungen entgegennehmen. Sie wollen selbständig werden, und man muss sie sehr geschickt in diese Selbständigkeit hinein begleiten.

Aber einen Fehler darf man nicht machen: Viele Eltern meinen, wir haben unser Kind lange behütet, kein Fernsehen geboten, jetzt ist es reif genug, jetzt darf es machen, was es will. Die Kinder einfach hineinzuschubsen und dann machen zu lassen, was sie wollen, ist das Dümmste, was man tun kann, weil man dann stumpfe Konsumenten erzieht statt kritikfähige, medienkompetente junge Menschen.

Medienkompetenz heißt für mich: Mit hohem Bewusstsein und mit hoher Kritikfähigkeit wahrnehmen, was mit mir durch das Medium geschieht.

 

Und das kann man in diesem Alter bereits tun?

Das kann man sogar sehr gut tun. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Jugendlichen an den Medien mehr wahrnehmen als ich, so dass ich selbst noch hinzugelernt habe. Meine Kinder haben mich mitunter über Dinge aufgeklärt, die mir entgangen waren. Also da können wir echt partnerschaftlich vorgehen. Ich rege als Erwachsener nur an, Beobachtungen zu machen. Ein junger Mensch in diesem Alter hat Spaß daran, Manipulationsversuche aufzudecken, und das kann man an diesen Medien wirklich sehr leicht tun.

Ob z.B. die Musik unter einem Filmbild so oder so ist, ändert meine Aufnahme dieses Bildes. Im Bild wogt ein Kornfeld – wenn da jetzt eine lustige Musik erklingt, dann habe ich Aufbruchsstimmung, liegt da aber eine melancholische Musik darunter, dann bin ich tief traurig und sehe dieses wiegende Korn ganz anders, als wenn es eine andere Musik wäre. So wird meine Stimmung beeinflusst und damit auch mein Urteil. Und über diese Einflüsse sich aufzuklären ist lustvoll für Jugendliche, weil sie da ihren neu erwachenden Intellekt erproben können am Durchschauen geheimer Wirkungen und Absichten. Denn das bringt ja sofort Distanz, und die lieben sie. Hier ich und da die Welt, und ich durchschaue euch. Diese Fähigkeit muss man nutzen.

Irgendwann kommt natürlich der Zeitpunkt, wo man sie mehr oder weniger freilassen muss, wo sie sich auch keine Vorschriften mehr gefallen lassen. Das finde ich dann auch nicht mehr problematisch. Wenn sie im Kindesalter genügend seelische Nahrung gehabt haben, wenn die Bewegungsentfaltung ausreichend war, wenn die sensorische Entwicklung reichhaltig war, wenn das alles pädagogisch gut war, dann sind sie auch stark genug, in die Exzesse hineinzugehen, die Jugendliche halt suchen, wie es ihrem Alter entspricht. Da kann man dann das Vertrauen haben, dass die das als eine Durchgangsphase mal auskosten, aber genügend inneren Halt haben, ihr Urteil letztendlich zu bilden. Auch wenn es zunächst gar nicht so scheint: Jugendliche sind oft zwiespältig, indem sie sich einerseits hineinschmeissen in die Sachen und auf der anderen Seite ein helles, messerscharfes Bewusstsein haben von dem, was vorgeht.

In dem Sinne sehe ich einen Entwicklungsgang, bei dem nur Schaden angerichtet wird, wenn man die Kinder zu früh mit dem Bildschirm konfrontiert. Im weiteren Verlauf der Kindheit allerdings sollte ruhig mal das eine oder andere Medienereignis vorkommen in der Wahrnehmung des Kindes, damit nicht der mystische, geheimnisvolle Zauber von etwas Verbotenem sich entwickelt, der den Reiz erhöht und die Kinder Heimlichkeiten machen lässt, die sie durch Lügen usw. verbergen müssen, so dass moralisch fragwürdiges Verhalten gefördert wird.

Gelegentlich sollte Fernsehen ganz offen miteinander angeschaut werden, Gelegenheiten ergeben sich ja immer von selbst. Aber die Erwachsenen sollten Kinder nie allein lassen. Man weiß heute nie, was gerade gesendet wird.

Mein Problem ist nicht, das Fernsehen abzuschaffen, sondern mein Problem ist, Kreativität anzuschaffen. Nicht den Bildschirm auszuschalten, sondern Kreativität und Eigenaktivität einzuschalten. Wie machen wir es, dass Kinder das seelische Futter erhalten, das sie eigentlich benötigen? Wenn davon reichlich vorhanden ist, sind sie stabil genug, um manches auch auszuhalten.

Ist es denn eine realistische Vorstellung, dass in einer durchschnittlichen Familie heute ein Kind bis zum 9. Lebensjahr ohne Fernsehen aufwächst? Oder wird es damit zum Außenseiter, weil "alle anderen es dürfen"?

Ich glaube, ich kann mir ein gewisses Urteil zutrauen, weil ich im Verlaufe der Jahre sehr viele Seminare mit Eltern hatte, wo man doch das ein oder andere hört. Und da hat sich gezeigt, dass es immer Eltern gibt, die es durchaus hinbringen, ihre Kinder zumindestens in den ersten Lebensjahren völlig ohne Fernsehen aufzuziehen.

Freilich: Da müssen sehr klare pädagogische Richtungen eingenommen werden, dann ist das machbar. Und ich habe immer wieder erlebt, dass es für die Eltern in dem Moment kein Problem mehr ist, wo sie genau wissen, warum sie etwas nicht wollen. Wenn es nur so ist, dass sie Fernsehen ablehnen, weil man mal gehört hat, das sei nicht gut - das reicht nicht. Sie müssen tiefgehende Argumente haben, und die versuche ich ja in meinen Vorträgen zu geben, damit Eltern wissen, warum es nicht gut ist fürs Kind.

In der Praxis stellt sich natürlich dieselbe Frage wie in der Ökologie, nämlich: Wie konsequent bin ich? Konsequenz kann ich niemanden vorschreiben und will es auch nicht. Ich weiß nur: Es ist machbar, wenn man es will. Ich meine, wir müssen das Problem genauso wie eine ökologische Frage ganz sachlich nehmen, nicht als eine Frage des Geschmacks oder der persönlichen Lebensführung.

Beim Fernsehen sieht man es allmählich auch immer mehr ein, dass dem Kind damit sehr geschadet werden kann, aber dann kommen die Videospiele, bei denen man es noch lange nicht einsieht, und dann kommen die Computer als Lernmaschinen im Kindergarten, bei denen man es erst recht nicht einsieht, sondern meint, das sei überhaupt der Segen für die Kinder. So dass also gewissermaßen das, was als schlecht erkannt wird, schon gleich wieder ausgetauscht wird gegen neues Gerät, wo der Erkenntnisprozess wieder von vorne beginnen muss.

(Auszüge aus einem Interview, das Sibylle Engstrom für unsere Redaktion mit Dr. Rainer Patzlaff führte.)

 

ZUM AUTOR:

Herr Patzlaff ist seit vielen Jahren als Medienforscher und Lehrer in Stuttgart tätig. Heute leitet er das "Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie". Wir haben bereits in unserem Artikel zum Thema "Kinder brauchen (An-) Sprache" über seine Forschungen zu Sprachentwicklungsstörungen berichtet.

Klicken Sie hier für Näheres zum IPSUM-Institut.

 

ANMERKUNG

Und weil man sich ja fragen kann, was "Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie" eigentlich heißt, hier – für alle die es interessiert – als Anhang noch ein Ausschnitt aus dem Interview, in dem Herr Patzlaff eben dies erklärt:

Das ist ein Begriff, der eigentlich aus der Biologie entnommen ist. Ökologie meint eigentlich nur die Beziehungen von Lebewesen untereinander. Der Begriff hat sich dann ausgedehnt, so dass man eben auch von Medienökologie spricht. Dafür gibt es heute sogar schon eine ganze Reihe Lehrstühle in Deutschland. Allerdings verstehen die Gelehrten darunter in der Regel die Beziehungen der Medien untereinander und ihre Querverbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen usw. Das sind fast immer Forschungen, die von der Medienindustrie selbst veranstaltet und bezahlt werden.

Sinnesökologie ist ein neuer Begriff. Ich hatte den Eindruck, so wie man die Erde heute als Gesamtorganismus in den Blick nimmt mit seinen unglaublich komplexen Beziehungen untereinander, mit seinen wechselseitigen Beeinflussungen, so müssen wir eben auch zwischen den Medien und den Sinnen die wechselseitige Beziehung wahrnehmen, und auch zwischen den Sinnen und den seelischen Fähigkeiten und den geistigen Fähigkeiten.

Also sowohl nach innen wie nach außen eine Ökologie der Sinne zu entwickeln ist gemeint, und deshalb ist es ein „Institut für Medien- und Sinnesökologie“. Das Ganze sehen wir unter dem pädagogischen Aspekt, daher der vollständige Name „Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie“. Wir bearbeiten da in gewisser Weise ein neues Gebiet, und ich habe die Hoffnung, dass durch die ökologische Betrachtungsweise eine Versachlichung der Diskussion über den Mediengebrauch

 
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