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Jirina Prekop: Eltern müssen nicht perfekt sein

Ein Gespräch mit Jirina Prekop

 

„Eltern dürfen Fehler machen – ohne schlechtes Gewissen und Schuldgefühle. Die Unterschiede zwischen richtig und falsch, zwischen gut und böse sind nämlich nur aufgrund der wahrgenommenen Fehler erkennbar. Deshalb geht es nicht ohne diese kleinen Stolpersteine. Denn ohne Fehler gibt es kein Lernen und keine Weiterentwicklung“, meint die berühmte Kindertherapeutin und Pädagogin.


Dr. Jirina Prekop, geb. 1929, ist Diplom-Psychologin und arbeitete viele Jahre in einer Kinderklinik in Stuttgart. Ihre zahlreichen Bücher sind mittlerweile in 24 Sprachen übersetzt worden. Einige von ihnen wurden zu Bestsellern. Die Begründerin der Festhaltetherapie und Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung des Festhaltens als Lebensform und Therapie e.V. wohnt in Lindau am Bodensee, ist jedoch meist unterwegs zu Vorträgen und Seminaren. Ihre Erfahrungen mit der Festhaltetherapie gibt sie dabei an Fachleute in aller Welt weiter.

Machen Eltern heute öfter Fehler in der Erziehung?

Immer mehr Mütter und Väter sind heutzutage in Kleinfamilien – oft als Einzelkinder – aufgewachsen. Da ist es ganz natürlich, dass sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit bei der Erziehung zwangsläufig Fehler machen, obwohl sie gute Eltern sein möchten. Besonders stark macht sich dies beim erstgeborenen Kind bemerkbar. Mit einer Prise Humor pflege ich bei meinen Vorträgen gerne zu sagen, dass ich jetzt mit 80 Jahren aufgrund meiner lebenslangen Erfahrung eine perfekte junge Mutter wäre. Ein großes Gelächter im Publikum belohnt jedes Mal diesen kleinen Witz. Ja, es ist ein Absurdum, aber dennoch ist es so.

Haben Eltern Angst, Fehler zu machen?

Ja, aber ein wenig Angst vor Fehlern muss sein, um sich überhaupt Gedanken über das Richtige und das Falsche machen zu können. Selbst der mutige Reinhold Messner bestieg nie ohne Angst und Respekt vor der Herausforderung einen Achttausender. Nur etwas Angst bewegt zur Sorgfalt. Stehen wir also dazu, dass zu Fehlern das Wissen um die Gefahr und die daraus folgende Angst gehört und dass nur „Angsthasen“ aufgrund ihrer übertriebenen Angst lieber auf jegliche neue Erfahrungen verzichten. Solche Menschen sind beispielsweise auch nicht in der Lage, sich von den eigenen Eltern loszulösen und selbständig zu werden. Der mutige Mensch jedoch lässt sich nicht abschrecken. Nachdem er den Fehler erkannt hat, macht er ihn wieder gut, verarbeitet ihn und steigt daraus mit erneuter Lebenskraft wieder empor. Er traut sich, ein neues Fehlerrisiko auf sich zu nehmen. Allerdings wird er dabei mit einer bewussteren Behutsamkeit ausgestattet sein.

Können Sie das etwas näher erläutern?

Wenn etwa ein Bergsteiger den Halt für den nächsten Schritt nicht ausreichend geprüft hat und deshalb der Felsen unter ihm etwas nachgibt, so erkennt er seinen Fehler sofort und wird beim nächsten Schritt den Felsen genauer prüfen. Das lässt sich auch auf die Erziehung übertragen. Wenn Eltern ihrem Sohn stundenlanges Computerspielen blauäugig gestattet haben, doch nun durch die in der Presse dargestellten Warnbeispiele die Gefährlichkeit solcher Spiele erkennen, ihren Leichtsinn bereuen und den Umgang mit dem Computer nach pädagogischen Maßstäben rechtzeitig ändern, dann sind sie als praktizierende Pädagogen gewachsen.

Wie sollen Eltern auf keinen Fall mit Fehlern umgehen?

Es gibt zwei Extreme, mit Fehlern umzugehen, und diese sind vollkommen gegensätzlich. Im ersten Fall wird der Fehler aus Angst gemieden. Im zweiten Fall wird er wegen fehlender Angst ohne weiteres zugelassen. In keinem der Fälle kann die polare belebende Kraft des Fehlers in Fluss kommen. Bei beiden wird er nicht erkannt und verarbeitet.

Was passiert, wenn Eltern ständig Angst vor Fehlern haben?

Sie sind zum Beispiel blockiert, bevor der Fehler überhaupt passieren konnte. Die Hemmung entsteht durch die lähmende Angst, überhaupt einen Fehler begehen zu können. Dabei ist es schon ein Fahler an sich, einem solch selbstzerstörerischen Gefühl zu unterliegen. Schlimmer ist es sogar noch, aus lauter Angst vor Fehlern überperfektionistisch handeln zu wollen. Solche verängstigten, zur Perfektion neigenden Eltern kann man keinem Kind wünschen. Denn von ihnen kann es nicht lernen, sich dem Leben zu stellen und sich durchzusetzen. Dabei gehören zur Entwicklung der eigenen Lebendigkeit Versuch und Irrtum – sprich begangene Fehler.

Und was ist, wenn Eltern sich ihrer eigenen Fehler nicht bewusst sind – aus Überzeugung, sowieso alles richtig zu machen?

Dann schleifen Eltern die Fehler jahrelang mit, ohne es zu wissen und ohne sich Gedanken über Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes zu machen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Eltern, die dem Kind seine materiellen Wünsche durchaus lückenlos erfüllen, es aber in Bezug auf die inneren Bedürfnisse verhungern lassen. Wohlstandsverwahrlosung nennt man das heute. Ein Fehler, der sehr schwer reparabel ist. Ihre Opfer sind beispielsweise unter den Jugendlichen zu finden, die trotz guter Intelligenz keine Ausbildung abschließen, weil sie nicht gelernt haben, etwas zu Ende zu bringen und ihre Lustlosigkeit zu überwinden. Auch die Zuflucht in Drogen zeigt sich häufig bei Kindern, denen niemand geholfen hat, den Sinn des Lebens zu entdecken.

Wie lernen Kinder, was Fehler sind?

Zunächst nimmt das Kind das Nein als warnendes Signal wahr. Erst durch konsequente Wiederholungen stellt es fest, dass ihm dadurch eine Grenze gesetzt wurde, und erst dann kann es begreifen, dass es ein Fehler wäre oder schon einer ist, diese Grenze zu überschreiten.
Es fühlt sich durch seine wachsende Wissbegierde und auch durch sein noch unrealistisches Selbstwertgefühl zum Überschreiten verleitet, etwa in der Trotzphase um das zweite bis dritte Lebensjahr. Das Kind kann aber einen Fehler erst nach dem Misslingen seiner Aktion feststellen. Es erfährt ihn zum Beispiel direkt, wenn es einen Keks in eine Trinkflasche gesteckt hat und nun an diesem nicht weiterknabbern kann. Oder es erkennt am Gesichtsausdruck der Eltern, dass diese mit seinem Verhalten nicht einverstanden sind. Schon der Gesichtsausdruck der Mutter oder des Vaters eröffnet dem Kind den Blick auf ihre Gefühle und gibt ihm somit auch die Chance zur Einsicht.

Und wie lernen Kinder, für ihre Fehler gerade zu stehen?

Ein Kind soll schon von klein auf lernen, dass es Fehler wiedergutmachen kann. Hat es beispielsweise die Katze mit seinem Teddybären geschlagen, zeigen ihm die Mama oder eine andere Bezugsperson, wie man auf einen solchen Fehler reagiert. Beruhigend und sanft streichelt sie die Katze und sagt dem Kind, was es selbst noch nicht formulieren kann: „Du brauchst keine Angst zu haben. Benjamin will dir nicht wehtun. Er hat dich so gerne.“ Zwischenzeitlich leitet sie Benjamins Hand zum Streicheln der Katze an.

Warum ist es so wichtig, dass Mutter, Vater und andere Bezugspersonen an einem Strang ziehen?

Grundwerte prägen sich dem Kind in ihrer Eindeutigkeit umso fester ein, je konsequenter jede einzelne Bezugsperson ihre Reaktion zeigt und je einheitlicher alle Bezugspersonen diese Grundwerte repräsentieren. So wächst das Kind in die gemeinsamen Werte hinein. Wenn es die ihm gegebenen ethischen Maßstäbe verinnerlicht und zum eigenen feinfühligen Gewissen gemacht hat, wird ihm auch sein eigener Fehler bewusst, ohne dass es eine Konfrontation seitens anderer bedarf. Im Zuge seiner weiteren Entwicklung werden natürlich die kreativen Entdeckungen des Kindes immer anspruchsvoller und das Verständnis für soziale Zusammenhänge immer komplexer. Die im frühesten Lebensalter angelegten Maßstäbe für Gut und Böse bleiben im Prinzip aber ein ganzes Leben lang erhalten, wie auch das angelegte emotionale Fundament, in dem sie verankert sind. Genauso bleiben auch die erkannten Werte für das Handeln ein Leben lang wirksam: „Mitmenschen und auch Tiere darfst du nicht verletzen. Aufgrund deiner Einfühlung und deiner Rücksichtnahme musst du dich zurücknehmen. Aber deine Lebensfreude und deine Wissbegierde darfst du im vollen Maße kreativ ausleben, andere Mitmenschen dabei einbeziehen und dich auch von ihrem Vorbild inspirieren lassen.“

Warum ist in diesem Zusammenhang die Bindung an Eltern, Großeltern und andere liebevolle Bezugspersonen so wichtig?

Die individuelle Begleitung des Kindes durch die wichtigsten Bezugspersonen während der ersten drei Lebensjahre hat eine prägende Bedeutung für sein weiteres Leben. Denn in dieser Zeit formen sich die Gehirnfunktionen aus. Im Stammhirn ist das neurophysiologische und neurobiochemische Fundament des Denkens und der Menschlichkeit schlechthin angesiedelt. Es ist – von der Evolution her – der älteste Teil des Gehirns, mit dem das Kind auf die Welt kommt. Hier sind die sinnliche Wahrnehmung, der damit verbundene Hormonhaushalt und die Gefühle sowie die Anlagen zur Empathiefähigkeit verankert. Was hier verwurzelt ist, das wächst, blüht und trägt das ganze Leben lang Früchte.

Auf der Basis des Vertrauens zu den Eltern kann das Kind sein Selbstvertrauen aufbauen, sich später auch anderen Menschen anvertrauen und wiederum sein Vertrauen anderen schenken. Gelingt dem Kind eine sichere Bindung zu seiner Mutter und zu seinem Vater, so kann es sich allmählich von ihnen loslösen und seine Bindungsbereitschaft auf Freunde übertragen. Hat das Kind gelernt, nicht vor Streit und Konflikten zu flüchten, sondern diese auszutragen, so kann es diese wichtige soziale Kompetenz auch später auf die eigene Partnerschaft und die Erziehung eigener Kinder übertragen. Von der „Düngung“ des emotionalen Nährbodens im Kleinkindalter hängt die gesamte spätere Persönlichkeitsentwicklung zur Menschlichkeit ab.

Welche Rolle spielen gerade die Eltern in dieser Entwicklungsstufe?

Mit seinen Eltern fühlt sich das Kind biologisch sicher gebunden und geborgen. Unter diesem Urvertrauen lässt es sich von ihnen gern beeinflussen, trösten, ermutigen und von ihrer Begeisterung anstecken. Von seinen Eltern wird es in das Schöpfungsgesetz der Polarität eingebunden: Unter ihrem Schutz erlebt es emotional und auch kognitiv die Grenzen zwischen Ja und Nein, zwischen Freude und Wut, zwischen dem Ich und dem Du. Hier lernt es die sprachliche Kommunikation und errichtet erste Bausteine für den eigenen Willen und die eigene Identität. Es genießt die Freiheit bei der Entwicklung seiner Neugierde, denn es darf Fehler riskieren, weil es sich auf die vorbehaltlose Liebe seiner Eltern verlassen kann. Diese Liebe gilt auch dann, wenn das Kind bewusst gegen Regeln verstoßen und dadurch eigentlich einen Fehler begangen hat. Es passiert ihm immer wieder, besonders während der Trotzphase, dass es in ein affektives Chaos gerät, wenn ihm die Grenze zwischen seinem Wollen und seinem tatsächlichen Können unerträglich erscheint. Und da ist es schlimm, wenn die ihm wichtigsten Menschen einfach wegschauen, so als wäre nichts passiert, oder es anschreien. Vielmehr tut es dem Kind gut, in den Armen seiner Eltern zu „landen“, denn hier hat es die Chance, sein Unbehagen auszudrücken, seine Wut auszuschreien und seine Trauer auszuweinen, wie auch die Gefühle des Gegenübers wahrzunehmen. Hier kann es neue Kraft für seine weiteren Entdeckungsreisen schöpfen.

Worauf sollten Eltern in diesem Zusammenhang besonders Acht geben?

Die individuelle Begleitung des Kindes setzt neben Einfühlung, Konsequenz und einer funktionierenden Zusammenarbeit der Betreuungspersonen sehr viel gemeinsame Zeit voraus: Zeit zum Schmusen, Spielen, Beobachten, Zeit fürs Loben und Staunen, Zeit zum Vorbildgeben, zum Trösten, zum Abfangen eines Trotzausbruchs – Zeit, den wütenden Sturm in Liebe zu verwandeln, Zeit zum sprachlichen Kommentieren von gemeinsamen Erlebnissen – denn eine der Hauptursachen der dramatischen Rückbildung des Sprachvermögens bei deutschen Kindern ist die äußerst eingeschränkte Kommunikation mit ihren Eltern. Der massive Fernsehkonsum ist erst die Folge davon. Dem Kind die gemeinsame Zeit zu verweigern, ist wirklich ein schwerer Fehler! Erinnern wir uns an die drei wichtigen „Z“, die der große Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi als Faustregel für die Erziehung verwendete: Zeit, Zärtlichkeit und Zuwendung.

 

Frau Dr. Prekop, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für unsere Redaktion

 

 

 

 

Buchtipp

Jirina Prekop:

Eltern dürfen Fehler machen. Wie Familien an Schwierigkeiten wachsen

Ein Buch, das Eltern, die ständig alles perfekt machen wollen, entlastet! In ihrer unnachahmlich feinfühligen Art nimmt Jirina Prekop Müttern und Vätern die Angst vor Fehlern. Denn diese bleiben in der Kindererziehung nicht aus – ganz gleich, wie bemüht und liebevoll die Eltern sind. Die Autorin erklärt, warum diese kleinen Stolpersteine einfach dazu gehören. Und sie zeigt Wege auf, wie Eltern sie erfolgreich aus dem Weg räumen können.

Kösel Verlag, 128 Seiten, 12,95 Euro

 
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