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Erziehung heute - ist erziehen schwieriger geworden?

„Alle Kinder lieben ihre Eltern. Diese Liebe ist unsterblich. Darauf können Mütter und Väter bauen. Auf moralische Sätze und ständige Ermahnungen sollten Eltern allerdings verzichten. Sie hinterlassen damit nämlich keine Wirkung. Was zählt, ist vielmehr die Art und Weise, wie Mutter oder Vater ihr Kind anschauen, wie sie ihm das Frühstücksbrot schmieren oder es zu Bett bringen. Eltern sollten ihrer Intuition vertrauen und aufhören, ständig auf andere zu schauen“, sagt der Kindertherapeut und Psychologe Wolfgang Bergmann.

Wolfgang Bergmann, Erziehungswissenschaftler, ist einer der bekanntesten Kindertherapeuten in Deutschland. Er hat eine Praxis in Hannover, ist Autor vieler Elternratgeber und ein gefragter Referent bei wissenschaftlichen Kongressen und Veranstaltungen über Erziehungsprobleme und Kindertherapie.

Wird es Eltern heute in unserer Gesellschaft schwer gemacht?

Sozialpolitiker und bürokratische Institutionen haben in unserer Gesellschaft offenbar ein unerschöpfliches Interesse daran, jungen Familien die äußeren Lebensbedingungen zu erschweren. Solche Sorgen kann sich eine Mutter in den ersten Lebensmonaten ihres Kindes gar nicht leisten. Jede finanzielle Krise -und ich kenne kaum eine junge Familie, die nicht von einer Krise zur anderen taumelt – mindert ihre Aufmerksamkeit, ihre Feinfühligkeit für das Kind. In einer kinderfreundlichen Gesellschaft, die eingebettet wäre in einer familienfreundlichen Kultur, würde man sich sehr viel mehr auf die elterlichen Gefühle verlassen können. Aber so ist unsere Gesellschaft nicht. Sie ist Kindern und Familien gegenüber feindlich gestimmt. Sie behindert und begrenzt Familien, wo sie nur kann. Permanent fällt aus der sozialen Kultur unserer Zeit ein Kälteschatten auf das Leben der Familien. Nicht alle Eltern haben die Kraft, sich gegen sie zu schützen. Oft werden gerade die kältesten, gefühllosesten Normen und Forderungen, die aus einer erstarrten Leistungskultur stammen, von unerfahrenen jungen Eltern verinnerlicht. Sie glauben dann wirklich, dass ein Kind mit zwei Jahren sprechen muss oder unbedingt ein Sprachförderprogramm benötigt.


Setzt der immer mehr um sich greifende Förderwahn Eltern unter Druck?

In der Tat. Es gibt zur Zeit einen verhängnisvollen Hang in den Wissenschaften und erst recht in der Politik, Kindheit technokratisch zu erfassen: noch ein Test und noch eine Förderung, die dann wieder getestet wird – und die natürlich die Erzieherinnen in den Kindergärten, die Lehrer in den Grundschulen und erst recht die Eltern unter einen verhängnisvollen, atemlosen Leistungszwang stellen. Diese Zwänge werden an die Kinder weiter gegeben. Dabei sind sie jetzt schon seelisch verarmt, bindungsschwach, sozial ungeübt, desorientiert und desillusioniert genug. Alles in dieser Gesellschaft scheint darauf hinauszulaufen, unseren Kindern die Kindheit zu stehlen. Hinzu kommt: Die Liebe deutscher Eltern zu ihren Kindern ist zu sehr auf Bestätigung von außen angewiesen, zu sehr an Normen orientiert, zu wenig couragiert, um wirklich väterlich oder mütterlich zu sein. Das gesellschaftliche Klima, das unsere Familien und unsere Kinder einhüllt, mindert ihre natürliche Lebensfreude und lähmt ihren Mut. Mütter und Väter trauen sich oft aus lauter Sorge um die schulische Zukunft ihrer Kinder nicht, bei Elternsprechtagen den Mund aufzumachen.

Welchen Einfluss hat dies auf die Liebe der Eltern zu ihrem Kind?

Elternliebe hat heute oft keinen Blick für die Zukunft, sondern ist auf die Befolgung der Normen der Gegenwart ausgerichtet. Eltern sind ständig auf der Suche nach Bestätigung. Und da es keine festen Normen und keine verlässlichen Bewertungen mehr geben kann, suchen sie diese Verlässlichkeiten im Vergleich mit anderen Familien und anderen Kindern. Im Miteinander der Eltern und Kinder ist eine ständige Unruhe spürbar. Sie äußert sich im Harmonieverlangen und in Konfliktscheu. Daran lässt sich die tief empfundene Unsicherheit deutscher Familien gut ablesen.

Können Eltern nicht mehr Nein sagen?

Viele Mütter und Väter sind heute regelrecht harmoniesüchtig. Dabei steht ein konsequentes Nein der Eltern am Anfang einer geordneten Vernunft und in gewisser Weise auch am Anfang der bewussten kindlichen Sprache. Wo Eltern aber versuchen, das Kind harmonieselig mit sich in Eintracht zu halten und gleichzeitig bemüht sind, ihm alle Widrigkeiten aus dem Weg zu räumen, da bleibt die Welt des Kindes im Chaos verhaftet. Mütter und Väter sollten also gelegentlich Nein sagen und dies konsequent zum Ausdruck bringen. Schon Einjährige müssen lernen, dass die Welt und ihr Wille nicht unbedingt übereinstimmen. Aber gleichzeitig darf das Nein der Eltern niemals hart und abrupt ausfallen, sondern einfach nur konsequent.

Was brauchen Kinder heute ganz besonders?

Kinder brauchen in den frühen Entwicklungsphasen vor allem Bindung, Halt und Verlässlichkeit. Das ist das ganze Geheimnis guter Erziehung. Ein anderes gibt es nicht. Schutz und Geborgenheit, Lenkung und Liebe in hundert und mehr Augenblicken jeden Tag. Jede Sekunde kann das Leben prägen. Jeder Moment hat eine besondere Bedeutung, dessen Wirkung in die Zukunft hinein niemand abschätzen kann. Zeit ist kostbar, ja heilig. Wenn wir dies im Hinterkopf behalten, fällt auf das alltägliche Einerlei mit den Kindern ein ganz neues Licht. Wir bekommen dann ein Gefühl für die Qualität der Zeit. Wichtig dabei ist vor allem für kleine Kinder das Gefühl, von Mama liebevoll umsorgt zu sein. Die Kleinen bewegen sich immer in zwei Richtungen gleichzeitig: einmal weg von der Mutter, zum anderen hin zu ihr. Jeder Schritt in die Welt hinein muss bei der Mutter rückversichert werden. Erst Mamas Sorge gibt dem Kind die Kraft und Zuversicht, sich wieder von ihr abzuwenden und einen neuen riskanten Schritt ins Ungewisse zu unternehmen.

Schützend und stützend muss der sorgenvolle Blick auf dem kleinen Körper ruhen. Dies erst gibt dem Kind die innere Kraft, die es dazu befähigt, mit gezieltem Griff nach der Schaufel, der Puppe oder dem Ball zu greifen. Mama muss da sein, ihre Sorge und Anteilnahme fühlbar. Dies ist die seelische Voraussetzung für den Kindermut. Aber wenn die Ermutigung zur Selbständigkeit zum Selbstzweck wird, wenn damit andere Absichten verfolgt werden, nämlich das Kind fit zu machen für den Konkurrenzkampf draußen in der Welt, für Macht und Leistung, dann stoßen Mütter ihr Kind, indem sie es nach vorne bringen wollen, häufig weg von sich. Die Mutter hat vielleicht gelesen, dass sie ihr Kind loslassen und zu eigenem Mut motivieren muss. Und dabei tappt sie in eine Falle. In unserer Kultur gibt es nämlich mittlerweile eine geheime Norm. Sie besagt, dass alles, was zur Individualisierung und zur Selbständigkeit führt, gut ist. Und dass alles, was zur Passivität, Geborgenheit, Sicherheit führt, von Übel ist. Dies widerspricht jedoch den Regeln der kindlichen Seele. Es handelt sich bei genauerem Hinsehen um eine gefühlskalte Hobby-Psychologie, die leider im Trend liegt.

Fällt Ihnen dazu ein Beispiel ein?

Ja. Viele junge Eltern setzen ihre Kinder Risiken aus, bei denen mir der Atem stockt. Ich frage mich, warum junge Mütter ihr zwei- oder dreijähriges Kind auf dem Spielplatz eine steile Kletterwand hoch krabbeln lassen? Warum sie sich nicht von der Stelle rühren, wenn sich die kleinen Füße in dem Netzwerk von Seilen verfangen? Warum ihnen nicht der Schreck in die Glieder fährt, wenn das Kind ausrutscht, vom Dach der Holzhütte herunter gleitet und schließlich auf dem Boden landet, wo es erbärmlich brüllt? Oft denke ich, dass diese moderne Kultur des Wagemuts, der Selbständigkeit und des Risikos von vielen Eltern viel zu sehr verinnerlicht worden ist. Dass es dann nicht mehr um die Selbständigkeit der Kinder geht, sondern sie sich im Moment der Gefahr im Stich gelassen fühlen – so stolz sie hinterher auch auf ihre Tapferkeit sein mögen. Fest steht: Kleinkinder kommen mit diesem Verlassenwerden nicht klar.

Entweder fangen sie an zu jammern. Oder sie entwickeln nun in ihrem Verlassenheitsmut eine dissoziale Tollkühnheit. Eine, in der sie sich selbst nicht mehr spüren. Mamas Abwendung treibt sie in die Welt draußen hinein, aber mit einer Dynamik, mit der sie nicht zurechtkommen. Gleichzeitig mit dem vorschnellen Schritt von Mama weg treibt es sie auch von sich selber weg. Sie verlieren sich in der Welt. Sie kommt zu schnell, zu bedrohlich und zu früh. Sie wird deshalb zu Teilen widerstandslos aufgesogen, zu anderen Teilen ängstlich abgewehrt. So entsteht eine Kindermentalität, die enorm verbreitet ist: zupackende, aggressive Kinder, die zugleich weinerlich und extrem ichbezogen sind. Sie haben jedes innere und äußere Maß verloren. Zeitweise oder sogar für immer. Das „Toll machst du das!“, das ständige „Super, super!“ das unaufhörlich über Spielplätze hallt, ist ein Symptom moderner Bindungsarmut.

Herr Bergmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

 
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