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Gertraud Finger: Wenn Kinder trauern

„In der Zeit der Trauer gibt es keine richtigen oder falschen Gefühle. Trauer lässt sich nicht reglementieren. Und jede Aufforderung wie Nicht weinen!’ oder Nicht lachen!’ oder Nicht wütend sein!’ behindert das Kind darin, seine eigenen Gefühle auszuleben. Trauer ist etwas ganz Persönliches. Und jedes Kind muss seinen Weg finden und tun, was für sein Temperament und seine Gefühlslage richtig ist“, sagt die Diplom-Psychologin Gertraud Finger.

Gertraud Finger (Jahrgang 1941) ist Diplom-Psychologin und Lehrerin. Sie unterrichtete an einer Grundschule, arbeitete dreißig Jahre in einer privaten Erziehungs- und Schulberatung und leitete fünfzehn Jahre die Frühförderstelle des Caritasverbandes Freiburg Stadt. Sie war Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und ist immer noch eine gefragte Referentin bei Vorträgen und Fortbildungen.

 

Wann und wie sollten Eltern ihre Kinder mit dem Thema Tod vertraut machen?

Gelegenheiten gibt es viele, etwa wenn die Kinder im Garten einen toten Vogel entdecken. Er ist vielleicht gegen die Fensterscheibe geflogen und hat sich beim Aufprall so schwer verletzt, dass er an seinen Verletzungen gestorben ist. Kinder brauchen solche Gelegenheiten zur „kleinen Trauer“.  Eltern können ihnen dann erklären, dass der Tod manchmal unerwartet kommt. Sie könnten den toten Vogel gemeinsam anschauen. Dabei bekommen die Kinder mit, wie der Körper des toten Vogels ganz steif wird und dass er sich nicht mehr bewegt. Sie könnten ihn in eine kleine Schachtel legen und beerdigen.

 

Empfinden Kinder in solchen Augenblicken Trauer?

Natürlich werden sie ein wenig traurig sein, wenn sie von dem toten Vogel erzählen. Vielleicht fließen auch ein paar Tränen. Aber dahinter verbirgt sich keine tiefe Trauer. Die Kinder haben den Vogel ja vorher nicht gekannt und damit keinen persönlichen Verlust erlitten. Anders sieht es aus, wenn das eigene Zwergkaninchen oder die Katze sterben. Eltern haben dann oft große Angst vor der Trauer ihres Kindes. Sie möchten es schützen und besorgen sofort ein neues Tier. Doch damit bringen sie ihr Kind um ein tiefes Erlebnis, das für sein weiteres Leben wichtig und sinnvoll sein kann. Beim Tod seines Kätzchens erlebt das Kind vielleicht zum ersten Mal einen persönlichen Verlust. Es muss Abschied nehmen von einem Tier, das es sehr geliebt hat. Es spürt ganz neue, bisher nicht gekannte Gefühle. Und es lernt, mit seiner Trauer zu leben.

Sie sprachen von der „kleinen Trauer“. Warum ist sie für Kinder so wichtig?

Jedes Kind kann ganz plötzlich durch den Tod eines geliebten Menschen getroffen werden. Dieses Erlebnis ist umso schwerer zu verarbeiten, je weniger das Kind darauf vorbereitet ist. Deshalb schlagen Fachleute für Kinder eine so genannte psychologische Immunisierung vor. Der Begriff Immunisierung stammt aus der Medizin. Dem Körper werden beim Impfen geringe Dosen von Krankheitserregern zugeführt, die den Körper selbst nicht schädigen, ihn aber veranlassen, Antikörper zu bilden. Auch bei der psychologischen Immunisierung geht es um eine Vorbeugung – diesmal auf die Schwierigkeiten des Lebens. Durch das Erlebnis mit dem fremden toten Vogel oder dem eigenen Kätzchen ist das Kind dem Tod begegnet. Es war traurig und durfte erleben, dass es darüber sprechen kann. Es hat geweint und durfte erfahren, dass Weinen gut tut. Es hat auch gemerkt, dass es langsam wieder fröhlich wurde. Es ist um eine Erfahrung reicher geworden, und das kann ihm helfen, wenn es erleben muss, dass ein geliebter Mensch stirbt.

 

Wie sollen Eltern mit ihrem Kind umgehen, wenn ein Angehöriger todkrank ist und bald sterben muss?

Zur psychologischen Immunisierung gehört auch die Vorbereitung auf einen Todesfall. Der nahende Tod eines Familienangehörigen sollte den Kindern nicht verschwiegen werden. Denn sie spüren ohnehin die Stimmung um sich herum. Sie fühlen sich dann einsam mitten unter Menschen, die gedrückt aussehen, seufzen und so tun, als ob nichts wäre. Erst wenn mit den Kindern darüber gesprochen wird, was die Erwachsenen augenblicklich so belastet, fühlen sie sich dazugehörig. Dann erhalten auch sie Gelegenheit zum Abschiednehmen. Das Traurigsein, das damit verbunden ist, kann auf die spätere Trauer vorbereiten und sie erträglicher machen.

 

Wie sollen Eltern über den Tod sprechen?

Eltern sollten auf keinen Fall den Tod umschreiben. Denn Kinder, vor allem im Vorschulalter, nehmen das, was die Eltern sagen, oft wörtlich. Das kann zu falschen Vorstellungen führen. Wenn ein Kind zum Beispiel hört „Großvater ist eingeschlafen“, kann es erschrecken. Der schlafende Opa wird in einem Sarg in der Erde versenkt. Was passiert, wenn er wieder aufwacht? Dadurch können Ängste vor dem eigenen Einschlafen entstehen. Der Großvater ist auch nicht auf eine lange Reise gegangen. Dann glaubt das Kind vielleicht, der Opa sei ihm böse, weil er sich nicht mehr meldet. Die Familie hat den Großvater auch nicht verloren. Denn was man verloren hat, kann man wieder finden. Warum suchen Mama und Papa den Opa dann nicht einfach? Dem Wort „Tod“ sollte deshalb nie ausgewichen werden. Doch genauso wichtig ist es, die Endgültigkeit des Todes zu betonen und ausdrücklich zu sagen, dass der Tote nicht zurückkommt. Dies können kleine Kinder am besten durch Beispiele erfassen. Die Eltern könnten mit ihnen darüber sprechen, dass der Großvater nie mehr mit ihnen in den Zoo gehen wird, oder dass die Großmutter keine Apfelpfannkuchen mehr backen kann.

 

Wie können Eltern ihr Kind am besten trösten?

Indem sie sich liebevoll und mit viel Fürsorge um ihr Kind kümmern. Darüber hinaus brauchen Kinder Eltern, die sie in ihrer Traurigkeit wahrnehmen und trösten. Wirkliche Trostworte sind nicht belehrend. Sie sagen nichts Banales und lenken nicht ab, sondern ermutigen das trauernde Kind, von seinem Kummer zu erzählen. Dazu helfen Worte wie „Erzähl mir von der Oma...“ oder „Es muss für dich ganz schlimm sein...“ oder „Willst du mir sagen, was dich so traurig macht?“ oder „Weißt du noch, damals...?“ Solche Worte laden das Kind zu einem Gespräch ein und zeigen ihm gleichzeitig, dass wir seinen Kummer ernst nehmen und ihm zuhören. Sie helfen dem Kind, sich an den Verstorbenen zu erinnern. Das kann manchmal schmerzlich sein, weil der Verlust dabei sehr deutlich wird. Doch davor können wir Erwachsenen Kinder nicht bewahren. Denn sie sind nur dann in der Lage, ihr Leid zu überwinden, wenn sie leiden dürfen. Wenn wir die Trauer der Kinder anerkennen, brauchen sie ihre Gefühle nicht zu leugnen. Und sie können ihren Weg durch die Trauer gehen. Dies fällt ihnen umso leichter, je einfühlsamer sie dabei begleitet werden.

Warum reagieren Kinder zuweilen mit Albernsein oder Aggressivität auf den Tod eines nahen Angehörigen?

Manche Kinder lassen Trauer nicht zu. Sie wollen den Tod des lieben Angehörigen einfach nicht wahrhaben und lassen das, was geschah, noch nicht an sich herankommen. Bei jedem Todesfall werden Menschen mit tiefen Gefühlen konfrontiert. Kinder haben sie in dieser Form noch nicht kennen gelernt. Das macht ängstlich und unsicher. Die Trauerverweigerung ist wie eine Notbremse. Kinder bremsen die Not, in die sie geraten sind, ab, um nicht davon überrollt zu werden. Die Kleinen brauchen einfach noch Zeit, das Unfassbare zu verstehen. So kann es sein, dass sie ihre Umgebung schockieren, indem sie lachen und albern sind. Eltern sollten ihrem Kind keinesfalls Vorwürfe machen, sondern dessen Abwehr und Verweigerung zulassen. Aber sie dürfen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen gleichzeitig eine Tür öffnen, damit das Kind wieder aus der Abwehr herausfindet. Denn eine länger andauernde Trauerverweigerung kann sich sehr ungünstig auf die gesamte Entwicklung des Kindes auswirken.

Eltern, Großeltern oder andere nahe stehende Menschen sollten deshalb mit dem Kind zum Friedhof gehen, Fotos anschauen und Geschichten aus dem Leben des Verstorbenen erzählen. Denn so zeigen sie ihm, dass man darüber sprechen kann und darf. Das Kind fühlt sich dann nicht mehr so allein und kann es wagen, seinen Kummer zuzulassen und ihm Ausdruck zu verleihen.

 

Kinder reagieren aber zuweilen auch mit Wut. Warum?

Kinder werden noch stärker aufgewühlt als Erwachsene. Sie können noch weniger verstehen und haben noch weniger Möglichkeiten, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Ihren seelischen Kummer drücken sie schließlich in auffälligem Verhalten aus. Sie schreien andere an, weinen, treten oder schlagen Türen. Zuweilen sind sie regelrecht wütend auf den verstorbenen Familienangehörigen. Mit dieser Wut wird ein Schuldiger für den eigenen Kummer gesucht. Wenn zum Beispiel ein vierjähriger Junge nach dem Tod des Großvaters schimpft: „Der Opa ist blöd!“ steht dahinter die Verzweiflung, dass der Opa ihn verlassen hat. Der Junge weiß nicht, wohin mit seiner Enttäuschung. Wenn er jetzt den Opa beschimpft, kann er eher verkraften, dass der Großvater nicht mehr da ist. Mit seiner Wut schützt er sich vor der Sehnsucht, den Opa wieder zu sehen.

 

Kinder glauben manchmal, den Tod eines Angehörigen verursacht zu haben, weil sie zum Beispiel etwas Böses zum Opa gesagt haben. Richten solche Vorstellungen Schaden in der Seele des Kindes an?

Gefährlich werden solche magischen Vorstellungen erst, wenn sie dazu führen, dass das Kind sich selbst heimlich Vorwürfe macht. Wenn Kinder Schuldgefühle zum Ausdruck bringen, ist es wichtig, diese nicht einfach als irrational wegzuwischen. Wer sich schuldig fühlt, sollte die Möglichkeit bekommen, darüber zu sprechen. Durch das Aussprechen werden die oft so unklaren Gefühle in Worte gefasst. Das Kind hört sich dabei selbst zu, und manchmal werden schon dadurch Schuldgefühle aufgelöst. Auch für Eltern wird es leichter, dem Erleben des Kindes im Nachhinein eine andere Wende zu geben. Wenn es zum Beispiel glaubt, der Opa sei gestorben, weil es etwas Böses zu ihm gesagt hat, könnten die Eltern ihm erklären: „Deine bösen Worte haben nichts mit Großvaters Tod zu tun. Er hat das schon richtig verstanden, und er wusste auch, dass du ihn eigentlich lieb hast.“ Doch es ist nicht immer so, dass sich Schuldgefühle auflösen. Kinder brauchen dann Wiedergutmachung und Versöhnung. Sie könnten in Gedanken mit dem Verstorbenen sprechen, ihm ein Bild malen, einen Brief schreiben oder etwas aufs Grab legen. Wichtig ist, dass dies von einem Erwachsenen begleitet wird und dass dieser zum Ausdruck bringt, dass nun alles wieder gut ist. Hier muss der begleitende Erwachsene stellvertretend für den Toten dem Kind das Gefühl der Schuld nehmen und die Versöhnung herbeiführen.

 

Zuweilen schlüpfen Kinder auch in die Rolle des Trösters, nämlich dann, wenn ihre Eltern selber tiefe Trauer empfinden. Was kann diesen Kindern helfen?

Dazu fällt mir eine erlebte Geschichte ein: Die kleine Schwester der zwölfjährigen Hanna stirbt an Krebs. Hanna sieht den Kummer der Eltern und möchte diese trösten, indem sie besonders brav ist. Sie geht nicht mehr mit den Freundinnen aus, sondern bleibt zu Hause, um der Mutter zu helfen. Sie ist jetzt auffallend gehorsam, angepasst, aber auch traurig. Die Stimmung zu Hause ist gedrückt. Hanna wagt oft nicht, unbeschwert fröhlich oder albern zu sein, wenn ihre Freundinnen zu Besuch kommen. Sie würde das fast als Verrat an ihrer toten Schwester empfinden. Sie glaubt, für die traurige Stimmung der Eltern verantwortlich zu sein. So nimmt das Mädchen sich immer mehr zurück. Niemand merkt, wie sehr sich Hanna verändert hat. Denn die Eltern sind innerlich mit ihrem verstorbenen Kind beschäftigt. Niemand weiß, wie es Hanna geht. Deshalb kann auch niemand sie unterstützen. Diese Last ist zu schwer für ein Kind. So wundert es nicht, dass Hanna niedergeschlagen ist und depressiv wirkt. Kinder wie Hanna brauchen dringend Hilfe. Doch die Eltern können sich ihren Kindern oft nicht so zuwenden, wie es nötig wäre. Sie sind ja selber tief traurig. Solche Familien brauchen Verwandte, Paten, Freunde, die für die Kinder da sein können. Jedes Kind, das einen schweren Verlust erlebt hat, braucht jemanden, der seine Trauer aushält, seine Fragen beantwortet oder ganz einfach für es da ist. Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass Kinder Widerstandskräfte gegen gewisse äußere Belastungen haben oder entwickeln können. Dies gelingt ihnen umso besser, wenn ihnen eine Vertrauensperson außerhalb des engsten Familienkreises beisteht.

 

Frau Finger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Dieses Interview führte Jette Lindholm für unsere Redaktion.

 

Buchtipp

Gertraud Finger

Wie Kinder trauern So können Eltern die Selbstheilungskräfte ihrer Kinder fördern

 

Anhand vieler Fallbeispiele aus ihrer Praxis erklärt die Autorin die unterschiedlichen Formen kindlichen Trauerns. Sie zeigt aber auch, welche Wege Kinder zur Bewältigung ihrer Trauer finden und wie Eltern und andere Bezugspersonen sie dabei unterstützen können. Das Buch enthält darüber hinaus Bilder von Künstlern, die sich dem Thema Tod gewidmet haben. Und es enthält viele Beschreibungen aus dem eigenen Erleben von Schriftstellern.

Die Bilder und Texte erleichtern den Einstieg in das Gespräch mit betroffenen Kindern. Gertraud Finger beschreibt darüber hinaus viele empfehlenswerte Kinderbücher zum Thema Tod. Dieses Buch hat für Eltern, Großeltern und Paten, die ein trauerndes Kind begleiten müssen, einen unschätzbaren Wert.

220 Seiten, Kreuz Verlag

 
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