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Inger Hermann: Kinder fragen nach Gott

Wie Eltern wahrhaftig antworten können und wie Religionsunterricht gelingen kann

Inger Hermann, Jahrgang 1940, wuchs in Namibia auf und studierte in Deutschland und England. Sie unterrichtete an Schulen und Hochschulen in Uganda, Nigeria und Deutschland, seit 1991 an der Evangelische Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen. Bis 2002 war sie Bildungsreferentin am Hospiz Stuttgart.

„Es mag verschiedene Wege geben, religiöse Erfahrungen zu vermitteln. Mit meinen Schülerinnen und Schülern - Großstadtkindern, entwurzelt, geschunden, gedemütigt – bleibt für mich nur der eine: mit ihnen in die Tiefe auch ihrer dunkelsten Alltagserfahrungen hineinzugehen. Und wenn eine Frage und damit oft ein Abgrund sich auftut, bereit sein, mich abzuseilen in ihre Dunkelheit. Das heißt für mich Religionsunterricht“, sagt die Religionspädagogin Inger Hermann.

 

Wie gehen Sie mit der Aggressivität und manchmal rohen Gewalttätigkeit Ihrer Schüler um?

Was ich jetzt sage, mag schockierend anmuten, vielleicht sogar blasphemisch. Stellen Sie mal ein Foto von Osama bin Laden neben das Bild des Christus aus dem Abendmahl von Leonardo da Vinci. Wenn ich diese beiden Gesichter täglich einige Minuten auf mich wirken lasse – möglichst ohne jede gedankliche Theoriebildung – kann etwas Seltsames geschehen: Alle Menschen, denen Sie begegnen – in der Straßenbahn, an der Kasse, der Obdachlose vor dem Geschäft: Sie alle beginnen wie von innen zu „blühen“. Und wenn am Abend Ihr Blick wieder auf das Foto von Osama bin Laden fällt, beginnt auch da etwas zu blühen. Erklären kann und will ich es nicht. Aber es hilft. Es hilft im Umgang mit gewaltbereiten, im Innern von Wut und Trauer zerfressenen Menschen.

 

Fällt Ihnen dazu vielleicht ein Beispiel aus Ihrem Schulalltag ein?

Ja. Die erste Erfahrung dieser Art verdanke ich einem hinterhältigen, gemeinen Schüler. Er war einer der wenigen, für den ich jedes Mal neu eine akute Antipathie empfand. Eines Abends am Schreibtisch fiel mein Blick auf das große Kalenderblatt einer Ikone: Der Engel schaut mich an: schwermütige Augen, runde Wangen und so weiche und zugleich fest verschlossene Lippen. Es war das Gesicht dieses Schülers, Pascal will ich ihn hier nennen. Sein Gesicht! Pascal – ein Engel?! „Fenster zur Ewigkeit“ steht auf dem Deckblatt des Kalenders. Pascal – auch du ein Fenster zur Ewigkeit? Und ich finde keinen Weg zu dir? Von deiner derben Sprache, deiner Grobheit habe ich mich abbringen lassen auf eine Fährte, die wegführt von dir: Störenfried, lästiger Schüler. Die Gesichter schieben sich übereinander: das Gesicht des Engels – Pascals Gesicht. Ausgerechnet! Am nächsten Tag in der Pause sehe ich Pascal. Der „Engel im T-Shirt“ denke ich und muss lachen. Da kommt er auf mich zu, bricht seinen Schokoriegel in der Mitte durch: „Da haben Sie auch was für die Pause. Ist schon ein bisschen weich, aber macht nichts.“ Nein, das macht wirklich nichts. Danke Pascal! Dieser geteilte Schokoriegel war – auch wenn es anstößig klingen mag – wie Kommunion: Wir haben etwas geteilt, weil die Liebe das Trennende übersteigt.

Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer gegen das Nazi-Regime im Dritten Reich, sprach von einer religionslosen Zeit und machte sich Gedanken über die Frage: „Wie kann Christus der Herr der Religionslosen werden?“. Wie würden Sie dies heute – übertragen auf Ihre Schüler – sehen?

Diese Frage Bonhoeffers wird zur zentralen Frage. Dass die meisten heutigen Stadtkinder „Religionslose“ in der ganzen Tragweite dieses Wortes sind, dass sie in einer religionslosen Gesellschaft leben und in eine religionslose Zukunft hineinwachsen – dessen sind wir uns eher zu wenig bewusst. Zugleich gilt für jedes dieser Kinder – ob sie nun getauft sind oder nicht: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“. Und – so erstaunlich es klingen mag: Dieses unbewusst Wissen um ihre Gotteskindschaft ist nicht verschüttet. Da gibt es immer noch einen Funken, der sich entfachen lässt. Viele Kinder und Jugendliche erleben sich als unerwünscht und überflüssig auf dieser Welt: den Eltern, den Wohnungsnachbarn, der Gesellschaft eher lästig. Diese Wunde ihres Unerwünschtseins lässt sie in ihrem Menschsein verkümmern. Sie fühlen sich ungeborgen auf der Dunkelseite einer Wegschau-Gesellschaft, die sich ihre Nöte, ihre Fragen und Herzschmerzen nicht zumuten will.

Was bedeutet dies in der Umsetzung eines Religionsunterrichtes, der diese Kinder dort abholt, wo sie stehen?

Es bedeutet, dass Glaubensinformationen – ob es sich um biblische Texte, Gebete und Psalmen oder kirchliche Traditionen handelt – nicht um ihrer selbst willen unterrichtet werden, sondern nur soweit sie durchlässig werden für heilende Erfahrung. Kinder dort abzuholen, wo sie sich nicht befinden, außerhalb ihrer Ängste und Probleme, ist Zeitverschwendung. Solange ich die oft grausige Wirklichkeit ihres Alltags vor der Schultür lasse, bedroht sie uns wie ein wütender Köter. Erst wenn ich sie mit ins Klassenzimmer hinein nehme, lässt sie sich zähmen.

 

Worauf kommt es im Religionsunterricht mit diesen Kindern besonders an?

Zwei Voraussetzungen gibt es für heilsamen Religionsunterricht: die Wahrheit des Kindes und die Wahrhaftigkeit des Lehrers. Der oft erschreckenden Realität des Alltags halte ich nur stand, wenn ich ihr mit meiner Realität, das heißt, mit meinem ganzen Menschsein begegne – ohne jede religiöse Floskel, ganz authentisch. Nur was ich selber glauben kann, was als Erfahrung in mir lebt, ist wichtig. Dazu gehört auch, dass ich oft keine Antwort habe, sondern ihnen vermittle: Nicht im Antworten bin ich euch voraus, aber im Suchen. Wenn es dann gelingt, dass wir uns gemeinsam auf die Suche machen, weil unsere Angst Fragen zu stellen, allmählich abfällt, dann wird Religionsunterricht wesentlich und macht oft sogar Spaß.

 

Wie gehen Sie denn mit der oft schockierenden Ausdrucksweise der Schüler um?

Ich vergeude keine Zeit mehr damit, die Kinder sprachlich umzuerziehen. Ihre Sprache ist nicht prüde. Meine sprachliche Schock- und Schmerzgrenze wurde anfangs ständig überschritten, bis ich erkannte, dass hinter den unflätigsten Formulierungen entweder besonders schlimme Leiderfahrung oder tiefe existentielle Fragen stecken. Danach konnte ich darauf verzichten, auf gepflegter Ausdrucksweise zu bestehen und mit dieser Überforderung manch gequälte Frage zum Verstummen zu bringen. So interessiert mich jetzt nur noch der Aufschrei, die Not, die sich darin ausdrücken will. Das heißt nicht, dass es keine verbindlichen Formen gibt. Ich verstehe sie auch als „Geborgenheitsrituale“ Zum festen Rahmen gehörten das gemeinsame Sprechen von Gebet oder Psalm am Anfang und der Segen am Schluss der Stunde.

 

Kann Religionsunterricht die Gewaltbereitschaft der Kinder verändern?

Das ist eine immer wiederkehrende Frage. Ich bin überzeugt, dass wir das Problem der Fäuste nur lösen können, wenn wir uns den gequälten, wimmernden Herzen zuwenden. Denn jedes wimmernde Herz kann zur Faust werden, wenn wir es nicht hören. Die wichtigste Aufgabe des heutigen Religionsunterrichts ist es, sich den wimmenden Herzen der Schüler zuzuwenden. Hier, im Unterricht, gibt es den Raum, über schmerzliche Erfahrungen, Ängste und Hoffnungslosigkeit zu sprechen. Oft werde ich gefragt: „Kann man mit diesen Beziehungsinvaliden, vollverkabelt und spracharm, wie sie sind, überhaupt ins Gespräch kommen?“ Ja, und zwar über die Wahrnehmung ihrer seelischen Verstümmelung. Und hier schließt sich der Kreis. Wenn es mir gelingt, auch und gerade das gewalttätige Kind achtsam und – wenn ich die Kraft aufbringe – liebevoll wahrzunehmen, kann Erstaunliches geschehen. Ich kann eine Prügelei unterbrechen und versuchen, die Schuldfrage zu klären, von der Tugend der Gewaltlosigkeit und Fairness sprechen – wenn ich mir von der Rolle des moralischen Dompteurs Erfolg verspreche. Ich kann aber auch den Oberprügler herausziehen und in den Arm nehmen, seine Schultern, den Nacken oder die Boxhand streicheln. Oft weicht die Aggressivität sofort und spürbar aus dem Raum. Bei größeren Schülern ist das so äußerlich nicht möglich, aber auch bei ihnen kann ich durch ein sanftes Berühren, durch eine Frage herausfinden: Was macht dich so kaputt, was tut so weh, dass du jemand anderen verletzen musst?

Den christlichen Kirchen weht ein immer schärferer Wind ins Gesicht. Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sagt, dass dies auf eine zunehmende Entkoppelung von kirchlichem Christentum und gesellschaftlichen Werten zurückzuführen ist. Was bedeutet das für den Religionsunterricht?

Die Rahmenbedingungen – etwa durch die Stellung des Faches im Stundenplan und die Zusammenlegung von Gruppen – sind die eine Seite der Sache. Schwerer noch wiegt die Entwertung durch die Eltern. Wenn eine Schülerin traurig erzählt, der Papa habe gesagt, Reli zähle nicht und ihr für die Eins keinen Euro geschenkt hat, die gäbe es nur für wichtige Fächer wie Mathe, dann wird mir auch als Lehrerin klar, dass ich mit diesem Fach auf einer anderen Werteskala angesiedelt bin. Ich kann die zunehmende Säkularisierung betrauern oder meine Antennen ausfahren, um gerade in dieser materialistischen und konsumorientierten Zeit die ebenfalls zunehmende Sehnsucht nach religiöser Erfahrung aufzuspüren. In allen Klassen lernen wir den 23. Psalm: ...“und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich.“ Keine Zusage, dass das finstere Tal erhellt oder man ihm enthoben werde: „Du bist bei mir.“ Das ist alles, was ich ihnen – stellvertretend sozusagen – anbiete, jede Stunde neu: Ich bin bereit, mit dir in deine dunklen Erfahrungen zu gehen, ich halte die Hilflosigkeit aus, auch wenn ich nicht helfen kann. Ich wende den Blick nicht vom Entsetzlichen ab – auch wenn es mich entsetzt. Neben dein fehlendes Urvertrauen setze ich mein Vertrauen in deine Einmaligkeit und Kostbarkeit. Neben die Realität deiner Verzweiflung halte ich die Realität von Gottes Liebe.

 

Kindern fehlt es heute zunehmend an Halt. Und dies gilt nicht nur für diejenigen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen?

Viele Kinder machen – neben den alltäglichen Eindrücken von Gewalt im Fernsehen und in der Familie – die Erfahrung einer völligen Orientierungslosigkeit ihrer Eltern. Die Verbindlichkeit bestimmter Lebensformen oder gar Verhaltensregeln kennen sie kaum. Auf die Frage: „Wann wird bei euch gegessen?“, antwortet eine Achtjährige: „Was meinen Sie, wann? Jeder holt sich was aus dem Kühlschrank, wenn er Hunger hat.“ „Als ich meinem Papa die geklaute Wasserpistole gezeigt habe, hat er nur gelacht“, erzählt ein Junge in der gleichen Klasse. Diese Beliebigkeit, womöglich gar als freiheitliche Erziehung verstanden, führt die Kinder in eine verstörte Haltlosigkeit und macht sie teilweise immun gegenüber Schuld- und Schamgefühlen. Sie erleben sich nicht als Freie, sondern als Ausgesetzte. Ausgesetzt in einer Wüste ohne Wege, ohne Landmarken und Begrenzungen. Nur so kann ich mir auch erklären, dass sie das unumstößliche Ritual von Anfangsgebet und Schlusssegen so bereitwillig akzeptieren: Geborgenheit innerhalb fester Regeln. Mit dem Orientierungsverlust geht meist Hand in Hand ein völlig verkümmertes Selbstwertgefühl. Wer statt Zuwendung einen eigenen Fernseher oder ein Computerspiel bekommt, erhält gleichzeitig die Botschaft: Du interessierst mich nicht besonders, mit dir lohnt es sich nicht. So ziehen sie sich vor dem Einschlafen noch einen Ekel-Schocker rein und verbringen ihren Sonntag mit Computerspielen, bei denen sie durch geschicktes Killen sich vorbereiten auf das Leben in einer pervertierten Gesellschaft: hohl und brutal. Und am Montag kommen sie wieder in die Schule. Die Jüngeren sagen oft unumwunden, wie schön sie es finden, dass das Wochenende oder gar die Ferien um sind. Die Schule als wohltuender Ort von Zuwendung und festen Regeln.

 

Wie definieren Sie Ihre Theologie?

Ich trage nicht ein Bild von Gott ins Klassenzimmer hinein, sondern ich versuche, Gott im Klassenzimmer zu finden – gerade auch im Kaugummi kauenden, trostlosen, vielleicht schon verrohten Kindergesicht. Auf dieser Suche sind die Evangelien mein Proviant, nicht in erster Linie Proviant der Schüler. Die Inhalte der Evangelien müssen durch uns hindurchgegangen sein, damit sie nahrhaft werden für die Kinder. Nicht das Buch, nur der Mensch erreicht den jungen Menschen. Ich kann zwar die Bibel zu Hause vergessen, aber ich muss den Engel in mir mitbringen, in jede Stunde, damit der Engel des Kindes ihm begegnen kann. Wenn ich einmal glaubte, der Weg ginge über Wissensvermittlung zur Erziehung und nur ausnahmsweise zur Beziehung mit den Schülern, so sehe ich den Weg des heutigen Religionsunterrichts eher umgekehrt: von der Beziehung allmählich zur Erziehung und dann durchaus auch zur Wissensvermittlung. Heilsgeschichte ohne Heilung geht völlig an den Bedürfnissen der Kinder und damit auch der Schule und der Gesellschaft vorbei.

 

Frau Hermann, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Dieses Interview führte Jette Lindholm für unsere Redaktion.

 

Buchtipp

Inger Hermann hat ein bewegendes und mitreißendes Buch über ihre Erfahrungen als Religionslehrerin an drei Stuttgarter Förderschulen geschrieben: „Halt’s Maul, jetzt kommt der Segen... Kinder auf der Schattenseite des Lebens fragen nach Gott“.


Inger Hermann:

„Halt’s Maul, jetzt kommt der Segen...“ Kinder auf der Schattenseite des Lebens fragen nach Gott

„Ich denke, Gott mag mich nun mal, ob ich Scheiß bau oder nicht, weil Gott, der kann doch gar nicht anders als lieben. Stimmt’s nicht? Nur wir Menschen können noch viel anderes, töten und so.“ Dies sagt der Siebtklässler Otto im Religionsunterricht einer Stuttgarter Förderschule. In bewegenden Reportagen schildert die Religionslehrerin den rohen Alltag vernachlässigter Kinder und erzählt von ihrem Leben, das geprägt ist von verbaler und körperlicher Gewalt, aber auch von tiefen existentiellen Fragen.

Inger Hermann hat diesen Fragen nachgespürt und sie pädagogisch reflektiert. In beeindruckender Weise gibt sie den Umgangston und die Lebensart der Kinder authentisch wieder. Und sie macht uns Lesern deutlich, dass sich im Leiden dieser vernachlässigten Kinder das Leiden unserer Zeit spiegelt. Inger Hermann plädiert für einen Religionsunterricht, in dem es nicht um fromme Floskeln geht, sondern um ganz elementare Gedanken über Gott. Ihr Buch, das seit Jahren zur Standard-Lektüre angehender Religionslehrer gehört – immerhin ist es gerade in der neunten Auflage erschienen – führt auch den theologischen Laien an existentielle Fragen des Lebens und Glaubens heran. Und es sind die von Inger Hermann beschriebenen Kinder auf der Schattenseite des Lebens, die wach machen für die raue Wirklichkeit des Lebens. Das Buch ist brandaktuell, denn es zeigt die Ängste und Hoffnungen von bedrohten Kindern in einer bedrohten Zeit. Wer es einmal aufgeschlagen hat, der wird es so schnell nicht wieder aus der Hand legen. Und er wird, da ist sich die Rezensentin sicher, bei der nächsten Begegnung mit einem „Problemkind“ anders als vielleicht bisher reagieren: nicht mit einem ärgerlichen Kopfschütteln, sondern mit einem liebevollen Blick tief hinein in die verletzte Seele des Kindes. Und jede Leserin und jeder Leser wird sich dem Wunsch von Inger Hermann gerne anschließen, die sagt: „Ich wünsche mir, dass viele Menschen von diesen Kindern wissen, sich ihre Sinne und Herzen öffnen für die vielen, vielen auf der Schattenseite des Lebens.“ (Jette Lindholm)

Calwer Verlag, 152 Seiten

 
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