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Zusammensein - Was Kleine und Große voneinander lernen können

„Über Jahrtausende hinweg schauten die Kleinen den Großen ganz einfach ab, wie das Leben gelingt. Das klappte problemlos, denn die Kinder waren überall dabei. Doch auch wenn nur die wenigsten von uns ihre Kinder mit aufs Feld oder in die Werkstatt nehmen können, gibt es im modernen Alltag dennoch viele Wege, auf denen die Kleinen an der Hand der Großen die Welt entdecken können. Gemeinsam die Herausforderungen des Alltags bewältigen: Das ist keineswegs eine Belastung, sondern ein überaus wertvolles Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können“, sagt die Buchautorin Regina Hilsberg.

Regina Hilsberg, Jahrgang 1951, ist verheiratet, hat vier Kinder und drei Enkelkinder. Sie ist Lehrerin, Privatmusiklehrerin und Autorin zahlreicher erfolgreicher Elternratgeber.

Sie empfehlen jungen Eltern seit über 20 Jahren, ihr Baby im Tragetuch am Alltag teilnehmen zu lassen. Welche Erfahrungen haben Sie selber als Mutter damit gemacht? Und zu welchen Erkenntnissen sind Sie dabei gekommen?

Der Alltag mit dem Baby im Tragetuch hat sich einfach richtig angefühlt. Es war der Weg, auf dem weder das Kind noch ich selber zurückstecken mussten. Ich konnte meinen Alltag bewältigen, und das Kind fühlte sich mitten ins Leben hinein genommen. Es schaute mir bei der Arbeit zu, spürte meine Bewegungen, meine Stimme, meinen Rhythmus. Mir wurde klar: Getragene Kinder teilen mit der Mutter die Lebensperspektive. Meiner Erfahrung nach hat diese passive Teilnahme am Geschehen einen ganz eigenen Wert für das Kind. Geborgen in der körperlich vermittelten Sicherheit kann es von seinem Ausguck aus miterleben, wie die Erwachsenen in der Welt handeln. Da geht die Mutter spontan auf eine Bekannte zu und schüttelt ihr die Hand. Da scheint die Sonne blendend zum Fenster herein, und der Vater reckt sich und zieht die Vorhänge zu. Da weint das Schwesterchen, und die Mutter bückt sich, um es zu trösten. Für ein Baby sind das viele Puzzleteilchen, aus denen sich langsam seine Welt zusammensetzt.

 

Würde ein Kind das nicht auch auf der Krabbeldecke oder im Kinderwagen erleben?

Irgendwie erleben schon, aber eben nur sehen, nicht spüren. Im Tragetuch teilt das Kind mit dem Erwachsenen den Blickwinkel, unter dem dieser die Welt erlebt und in ihr handelt. Dabei entwickelt das Kind ganz nebenbei ein erstes grundlegendes Selbstbewusstsein. Da das Kind noch gar nicht recht zwischen sich und anderen unterscheiden kann, erlebt es alles, was der Erwachsene tut, wahrscheinlich so, als ob es das selber täte: die Schwester trösten, den Vorhang zuziehen usw. Und daraus, dass es ja offenbar all das bewältigt, leitet das Kind die Zuversicht ab, mit dem Leben gut zurechtzukommen. Außerdem baut es ein tiefes Vertrauen zu Mutter und Vater auf. Zwar wird es irgendwann verstehen, dass es ein eigenständiges Wesen ist und nicht identisch mit den Großen. Aber es hat bereits erlebt, dass die Großen wissen, was sie tun, um in dieser Welt zu bestehen.

 

Wie können Kinder denn nach der Zeit im Tragetuch Lebensperspektive mit ihren Eltern teilen?

Indem Eltern sie an möglichst vielen Verrichtungen des täglichen Lebens teilhaben lassen. Als unsere Kinder dem Tragetuch entwachsen waren, wurde zum Beispiel unsere Küchenarbeitsplatte ihr bevorzugter Platz. Inzwischen sitzen unsere kleinen Enkelinnen genauso gerne dort und 'helfen’ beim Kochen. An diesem alltäglichen Arbeitsplatz verwirklicht sich in hundertfacher Variation die goldene Dreierregel des 'Perspektive Teilens’:

- Der Erwachsene tut, was gerade nötig ist, zum Beispiel Essen zubereiten.
- Das Kind ist dabei.
- Der Erwachsene nimmt Rücksicht auf das Kind, setzt aber seine Arbeit fort.


Auch wenn es nun selber steht und läuft, schaut das Kind aus dem Blickwinkel des Erwachsenen in die Welt, nimmt wahr, was getan werden muss, wie man es macht und wie sich der Erwachsene dabei verhält.

Heute ist oft die Rede von „Qualitätszeit“, die Eltern für ihre Kinder reservieren sollten: Zeit, in der Eltern sich voll und ganz ihrem Kind widmen und sich nicht ablenken lassen sollten. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Ich halte es für falsch zu sagen, es käme nicht darauf an, wie viel Zeit Eltern für ihre Kinder hätten, sondern in erster Linie, ob sie in der wenigen Zeit, die sie für sie aufbringen, auch voll und ganz für sie da seien. Der wahre Mörtel für die Tragfähigkeit der Eltern-Kind-Beziehung sind nämlich weniger die miteinander geteilten arbeitsfreien Highlights am Wochenende als die kindliche Gewissheit, jederzeit auf verlässliche Hilfe zurückgreifen zu können. Und die kleinen und großen Probleme des Kinderlebens warten nicht darauf, bis Mama und Papa abends nach Hause kommen und 'Qualitätszeit’ für ihr Kind haben. Kinder brauchen die Gegenwart vertrauter Personen über lange Zeitstrecken hinweg, ohne dass ihnen dabei unentwegt Aufmerksamkeit zuteil werden muss.

Allein zu wissen: Mama (oder Papa) ist da, ist schon Gold wert. Auch wenn man nichts Großartiges mit den Kindern unternimmt, hält doch der miteinander bewältigte Alltag viele Gelegenheiten für spontane Zuwendung bereit: Kuscheln zwischendurch, die Bewunderung eines gelungenen Bauwerks, ein Kindervers beim Füttern, ein Scherz beim Kämmen. So kann eine ganze Kette von kleinen Zuwendungen den Alltag durchziehen. Gerade unter den heutigen, durch Termindruck geprägten Lebensbedingungen kann durch solche kleinen gemeinsamen Freuden beim Einkaufen oder Kochen der Mangel an aufwändig gestalteter gemeinsamer Zeit zumindest teilweise ausgeglichen werden.

Der Mangel an kleinen Gesten dürfte für die Kinder schmerzlicher spürbar sein als der Mangel an größeren Zeitabschnitten, in denen die Eltern sich mit ihnen beschäftigen. Natürlich sind Vorlesestunden und Spielabende, Ausflüge und Schwimmbadbesuche etwas Wunderbares. Aber wenn sie fehlen, fehlt weniger, als wenn die Herzlichkeit im Alltag ausfällt.

 

Wie sollten Eltern mit ihren Kindern den Alltag teilen?

Ich nenne das 'Alltag teilen’ gern 'Mitnehmen’. Es findet immer dann statt, wenn ein Erwachsener etwas tut, was ihm wichtig ist, und das Kind dabei ist. Es ist dabei nicht entscheidend, ob er das Kind in seine Tätigkeit einbezieht oder nicht. Entscheidend ist, dass er sich seiner Sache widmet und gleichzeitig einen Teil seiner Aufmerksamkeit dem Kind schenkt. Denn es bleibt natürlich nicht aus, dass das Kind etwas fragt oder auch mal Werkzeug durcheinander bringt. Bei älteren Kindern, die dann selbst mit anpacken, muss das eine oder andere erklärt werden, oder man muss aushalten, dass etwas ungeschickt oder langsam erledigt wird. Denn gut Ding will Weile haben. Und es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, wie es in den guten alten Sprichwörtern heißt. Doch immerhin sind auf diese Weise über Jahrtausende Wissen und Fertigkeiten von einer Generation an die andere weitergegeben worden. Ein Lernweg, den wir auch heute nicht unterschätzen sollten.

 

Was wird in einem Kind ausgelöst, das seinen Eltern bei der Alltagsarbeit zuschauen und mithelfen darf?

Zunächst einmal wird in einem Kind, das seine Erwachsenen bei alltäglichen Arbeiten erlebt, das Zutrauen gestärkt, dass dieser Mensch die Welt kennt, in ihr handeln und dem Kind somit Sicherheit verschaffen kann. Wenn der Papa den Schrank aufstellen und die Mama die Vorhänge aufhängen kann, der Vater mit dem Automechaniker verhandelt und die Mutter mit dem Sparkassenberater, dann enthält das alles auch die Botschaft: 'Schau her, ich komme mit der Welt zurecht!’ Bei einer Alltagsorganisation dagegen, die alle wichtigen Tätigkeiten auf Zeiten verlegt, zu denen das Kind nicht anwesend ist, muss diesem die Welt so vorkommen, als würde sie selbsttätig funktionieren. Klar kann der Schrank aufgestellt oder der Vorhang aufgehängt werden, wenn die Kinder bei der Oma sind oder schon schlafen. Natürlich können Eltern zur Autowerkstatt oder zur Sparkasse fahren, wenn die Kinder bei Freunden untergebracht sind. Damit würden sie dem allgegenwärtigen Anspruch gerecht, jede Arbeit möglichst schnell zu erledigen. Unsere Rolle im Leben aber werden die Kinder dabei nicht nachvollziehen können. Das ist nicht so harmlos, wie es klingt. Zwar könnte man der Meinung sei, das würden sie schon irgendwann lernen. Beobachtet man aber das Verhalten vieler Jugendlicher, scheint ein großer Teil von ihnen nicht begriffen zu haben, dass zwischen 'gutem Leben’ und Arbeiten ein Zusammenhang besteht.

Aber kann das nicht alles auch sehr mühsam sein – für Eltern und für Kinder?

Ja und Nein. Kinder müssen ja auch lernen, dass das Leben manchmal Mühe macht. Über der Aufbauanleitung für einen Schrank ist schon mancher in Verzweiflung geraten. Und dass jemand Vorhänge aufhängt, ohne zwischendurch mal zu fluchen, passiert ebenfalls äußerst selten. Aber wenn das Kind später den Schrank sieht, dann weiß es: 'Mein Papa hat ihn aufgebaut.“ Am besten noch: 'mit meiner Hilfe!’ Die Erinnerung an solche gemeinsamen Aktionen begründen ein Wir-Gefühl: 'Mein Papa und ich. Meine Mama und ich. Wir haben das geschafft!’ Die gemeinsame Blickrichtung auf dieses wichtige Projekt bewirkt nicht nur einen realistischen Blick auf die Welt, sondern erzeugt ein Gefühl der Verbundenheit. Kinder sind auch stolz auf ihre Eltern, wenn diese etwas zustande gebracht haben. Es ist beruhigend zu wissen: 'Mama und Papa zeigen mir, wie das Leben funktioniert, sie kennen alle Tricks.’ Und wenn dieses Gefühl gut verankert ist, dann wird das Leben mit dem Kind leicht. Denn dann hat es so viel Vertrauen zu den Eltern, dass viele der Schwierigkeiten, die mit dem Heranwachsen der Kinder auftreten können, leicht zu bewältigen sind.

 

Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass drei Komponenten wichtig seien im Zusammenleben von Eltern mit Kindern, und zwar: Mitnehmen, Laufen lassen und Zuwendung. Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja, betrachten wir doch eine gemeinsame Familienmahlzeit. Mitnehmen bedeutet hier: Die Eltern haben entschieden, was auf den Tisch kommt, dass man am Tisch sitzt und nicht beim Essen herumläuft, mit der Gabel und nicht mit den Fingern gegessen wird, man nicht mit vollem Mund redet, jeder von seinem Teller isst, man sich nicht mehr auf den Teller häuft, als man essen kann. Laufen lassen heißt: Die Eltern greifen nicht ein, wenn das Essen mit der Gabel noch nicht so gut klappt. Sie erlauben, dass aus dem Kartoffelbrei eine Berglandschaft wird, in der die Buttersoße das Bächlein bildet. Sie lachen mit darüber, wenn der Rosenkohl als Kopf auf der Gabel sitzt und dem Tischnachbarn einen Besuch abstattet. Und Zuwendung bedeutet: Jedes freundliche Anlachen des Kindes, die Frage, ob es schmeckt, das Zuhören, wenn es Geschichten aus Kindergarten oder Schule erzählt, das Nachdenken darüber, wie es seinen Nachmittag verbringen kann. All das vermittelt ein Gefühl des Wahrgenommenwerdens. Es ist nicht schwer, auch andere Alltagssituationen mit dieser Lupe zu untersuchen und die gleichen Fäden zu entdecken, aus denen sie gewirkt sind. Die Fähigkeit des Menschen, in vielen Schichten gleichzeitig aktiv zu sein, macht es möglich, im Zusammenleben mit Kindern je nach Situation den hier dargestellten Dreiklang nicht nur nacheinander, sondern als Harmonie zum Klingen zu bringen.

Wie profitieren Eltern davon, die sich auf ein 'Zusammen’ mit ihren Kindern einlassen?

Durch die ansteckende kindliche Lebensfreude! Eine warme, weiche Kinderhand in der eigenen, ein glucksendes Lachen beim Hoppe-Reiter-Spiel, das Staunen über den gefundenen Käfer, die glühenden Wangen nach einem gewonnenen Tischtennisspiel, der ernsthafte Disput mit einem älteren Kind über eine Nachricht im Radio oder Fernsehen: All diese kleinen und großen Zeichen der Neugierde und des neuen Erlebens entstauben dem Erwachsenen seine bereits etwas abgenutzte Welt. In gewisser Weise 'verlängern’ die Kinder das Leben derjenigen, die sich auf sie einlassen. Denn Zeit, dieses körperlose Etwas, dem wir alle ausgesetzt sind und das sich dennoch nicht fassen lässt, messen wir mit greifbaren Hilfsmitteln: mit Erlebnissen. Eine erlebnispralle Zeit erscheint uns lang, eine, in der nichts passiert, geht wie der Wind vorbei. Für ein Kind ist die Welt noch groß. Jedes Ding, das es in die Hand nimmt, ist ein neues Forschungsprojekt, jede Handlung, die ihm das erste Mal gelingt, Grund zum Stolz, jeder Misserfolg ein Absturz ins Bodenlose, jede Geschichte neu, jeder Tag ein Abenteuer. Als Zeuge dieses Erlebens kommt der Erwachsene nun in den Genuss seines 'Spiegelkabinetts’ im Kopf. Er kann nicht nur nachvollziehen, was das Kind tut, sondern seine Spiegelneuronen wecken in ihm auch die begleitenden Gefühle, Freude, Stolz, Enttäuschung, Neugierde, Tatendrang. Das Leuchten in den Augen von Kindern kann einem Erwachsenen sein ganzes Leben in ein neues Licht tauchen. Das ist sogar eine ganz körperliche Sache. Allein schon das ansteckende Lachen eines Kindes kann die durchschnittliche Lachdauer des Erwachsenen signifikant in die Höhe treiben. Die Freude, die man mit Kindern empfinden kann, ist ein Lebenselixier erster Güte.

 

Frau Hilsberg, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Dieses Interview führte Jette Lindholm für unsere Redaktion.

 

Buchtipp

Regina Hilsberg:

„Zusammen! Wie die Kleinen von den Großen leben lernen“

Nicht nur Babys im Tragetuch, auch forschende Kleinkinder und neugierige Kindergarten- und Schulkinder profitieren davon, ihre Eltern hautnah bei der Bewältigung des Alltags zu erleben. Wichtige Erfahrungen können die Kleinen nur am 'lebenden Modell’ machen: Essen zubereiten, Kleidung nähen, Salat anpflanzen, in der Werkstatt arbeiten usw. Es gibt keinen Grund, Kinder, auch ganz kleine, von diesem Erleben auszuschließen. Es geht auch nicht nur um die gemeinsame Arbeit. Denn zwischendurch gibt es immer wieder Gelegenheiten für kleine Spiele, Gespräche, Fantasien usw., die das Kind als ganze kleine Person mit der Welt verbinden, in die es hineingeboren ist. Aber was unsere Vorfahren über Jahrtausende praktizierten, scheint heute mehr und mehr verloren zu gehen. Statt einer Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern, zu der auch die Arbeitswelt gehört, trennen wir die Welten von Kleien und Großen mehr und mehr. Mit fatalen Folgen. Regina Hilsberg hält in ihrem Buch ein Plädoyer für gemeinsames bedeutungsvolles Tun, fürs Teilhabenlassen der Kinder am Elternalltag. Ein wertvoller Ratgeber, der Eltern hilft, auch mal gegen den Strom der Zeit zu schwimmen und andere Wege zu gehen, die heute leider oft erst wieder mühsam geebnet werden müssen.

Beltz Verlag, 232 Seiten

 
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