Margarete Ostheimer GmbH homebanner
header-standard

Schuleintritt - Wann ist mein Kind schulreif?

„Heute hat die Tendenz zugenommen, bei der Schulreife-Entscheidung die intellektuelle Ausreifung des Kindes über zu bewerten. Manche Sechsjährige sind heute intellektuell schon besonders wach, und ihr kritisches Weltverständnis ist stark ausgeprägt. Ihre soziale Reife sowie Kraft und Ausdauer für schulisches Lernen sind jedoch oft noch weit zurück. Es tut deshalb keinem Kind gut, die Phase des vorschulischen Lernens zugunsten des schulischen Lernens zu früh abzubrechen. Das würde nämlich bedeuten, seine vielseitigen Entwicklungsmöglichkeiten zu ersticken, noch bevor sie keimen, sich entfalten und zeigen können. Wann ein Kind reif ist für die neue Qualität des schulischen Lernens, zeigt es selber am besten an.

Die Entwicklung verschiedener Fähigkeiten, etwa Sprache, logische Denken und Motorik, verläuft bei jedem Kind unterschiedlich. Jedes Kind hat deshalb ein Recht auf sein eigenes Zeitraster“, sagt der Diplom-Pädagoge und Waldorf-Experte Peter Lang.

Peter Lang, Jahrgang 1939, ist Diplom-Pädagoge und Leiter des Berufskollegs am Waldorf-Kindergartenseminar Stuttgart. Er ist als mitverantwortlicher Dozent am Aufbau und der Entwicklung der Waldorf-Kindergartenpädagogik in europäischen und asiatischen Staaten beteiligt und für die Broschürenreihe „Recht auf Kindheit – ein Menschenrecht“ redaktionell verantwortlich.

 

Immer mehr Eltern wünschen sich eine gründlichere Vorbereitung ihrer Kinder auf die Schule. Wäre das eine Aufgabe des Kindergartens?

Natürlich schließt sich an den Kindergarten die Schule an. Der Kindergarten begleitet und führt die Kinder an das Eingangstor der Schule. Dies bedeutet aber nicht, dass die letzte Kindergartenzeit zur Schulzeit werden sollte. Die gegenwärtige Debatte über eine generelle Vorverlegung des Einschulungsalters ist wenig konstruktiv, ebenso die Überlegungen, schulische Inhalte und Methoden in den Kindergarten vor zu verlagern. Es wäre fatal, den Kindergarten zu verschulen. Denn hier geht es um ein ganzheitliches Bildungsverständnis. Das heißt: Das Kindergartenkind lernt unmittelbar am Leben und noch nicht in didaktischen Sondersituationen. Bildung in der Schule jedoch läuft auf das Training einzelner Fähigkeiten hinaus. Für den Kindergarten charakteristisch ist das so genannte implizite Lernen – eine indirekte Lernweise, die sich überwiegend an Vorbild und Nachahmung und an sinnvollen Handlungszusammenhängen orientiert. In der Schule hingegen hat das explizite Lernen Vorrang. Das Schulkind wird direkter und gezielt zum Rechnen, Zählen, Schreiben und Lesen gebracht. Dabei ist der Lernprozess stark vom Lehrer geführt. Es gibt eine Tafel, eine feste Stundeneinteilung und ganz bestimmte Aufgabenstellungen. Die Forderungen nach Vorverlegung des Schuleintritts, nach Vorschule oder Bildungskindergärten, verkennen diese unterschiedlichen Lernwege und ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung.

 

Eltern glauben oft, dass das letzte Kindergartenjahr verschenkt ist und ihr Kind eigentlich schon eingeschult werden könnte. Welchen Vorteil hat dieses letzte Kindergartenjahr eigentlich heute noch?

Das letzte Kindergartenjahr gilt als das „Königsjahr“. Die Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren haben jetzt eine gewisse soziale Reife erlangt und können gut mit anderen spielen. Ihre motorische und auch sprachliche Entwicklung ist gefestigt. Ihre Gedächtniskraft reicht bis ins dritte Lebensjahr zurück. Sie sind voller Energie und Tatendrang. Der sichtbare Zahnwechsel hat begonnen, der Gestaltwandel, das heißt der Umbau des gesamten Organismus, ist in vollem Gange. Die bald schulreifen Kinder können und wollen nun Aufgaben übernehmen. Sie entwickeln sich heraus aus der mehr von der Fantasie und dem Augenblick geprägten spontanen Aktivität zum mehr überlegten, Planen und Handeln. In diesem „Königsjahr“ erleben sich die älteren Kindergartenkinder als diejenigen, die viele Dinge schon kennen, die einen gewissen Überblick über die Abläufe und einen Vorsprung gegenüber den kleineren haben, den sie mit Fürsorge und einer sich entwickelnden Verantwortung füllen können. Wir sollten Kindern dieses Reifungsjahr im Kindergarten gönnen, weil es die Kinder geistig, seelisch, körperlich und sozial wachsen lässt und auf diese Weise den Schuleintritt gut vorbereitet.

Brauchen Kinder in diesem „Königsjahr“ darüber hinaus eine besondere Förderung?

Ja. Damit auch die älteren Kinder weiterhin gut gefördert und gefordert werden, sollten sie immer wieder für eine Weile aus dem Geschehen der ganzen Kindergartengruppe herausgelöst und in spezielle Lern- und Tätigkeitsprotzesse eintauchen können. Gerade das „Königsjahr“ birgt wesentliche, individuelle und soziale Entwicklungschancen und muss pädagogisch gut begleitet werden. Auch von daher sollten Kinder nicht zu früh eingeschult werden, um noch im Kindergarten diesen Reifungsprozess erleben zu können. Denn dieser ist für die Entwicklung des Selbstvertrauens in die eigenen Kräfte auch für das spätre Leben von großer Bedeutung.

 

Warum befürworten Politiker denn dann ein früheres Einschulungsalter? Und welche Argumente sprechen dagegen?

Wenn Politiker in Deutschland heute ein früheres Einschulungsalter propagieren, führen sie angeblich bessere Bildungs- und Entwicklungschancen als Argument an. Doch eine Studie der Technischen Universität Darmstadt im Jahr 2005 zum Effekt des Einschulungsalters auf die Schülerleistung ergab: Kinder, die mit ungefähr sieben anstatt mit etwa sechs Jahren eingeschult werden, ziehen daraus langfristige Vorteile. Der Reife-Vorsprung der älteren Erstklässler führt dazu, dass sie am Ende der Grundschulzeit ein deutlich besseres Leseverständnis aufweisen und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf ein Gymnasium wechseln. Hinzu kommt: Viele Lehrerinnen und Lehrer attestieren sehr jungen Erstklässlern eine mangelnde Schulreife, vor allem bezüglich der Konzentrationsfähigkeit, der Überwindung von Frustration und der Selbstorganisation. Zu ähnlichen Ergebnissen kam bereits vor fast 25 Jahren eine von James Uphoff und June Gilmore in den USA veröffentlichte Studie. Die später (zwischen 6,6 und 7,3 Jahren) eingeschulten Kinder hatten meist mehr und öfter überdurchschnittlich gute Noten als früher eingeschulte. Fest steht auch: Früher Eingeschulte einer Klasse bleiben eher sitzen als ältere. Da dies allerdings oft erst zwischen der dritten und siebten Klasse passiert, wird es nicht mehr mit dem zu frühen Schuleintritt in Beziehung gebracht. Eine Untersuchung aus Nordrhein-Westfalen ergab sogar, dass vorzeitig eingeschulte Kinder fünfmal häufiger ein zweites Mal sitzen bleiben als ältere Schulanfänger. Last but not least hat das wissenschaftliche Institut für Leseforschung in Stavanger / Norwegen aufgezeigt: Kinder, die mit sechs Jahren eingeschult wurden, lesen schlechter als andere, die erst mit sieben Jahren zur Schule kamen. Alle diese Experten warnen vor einem zu frühen Schuleintritt. Alle diese Untersuchungen sind veröffentlicht und bekannt. Und dennoch werden sie vielfach missachtet. Das heißt: Die Entwicklungszeit der Kinder wird verkürzt, Entwicklungsprozesse werden beschleunigt. Ein „je früher desto besser“-Denken breitet sich aus – zum Nachteil unserer Kinder.

 

Eltern legen heute mehr denn je Wert auf eine möglichst frühe Förderung ihrer Kinder. Welche Folgen kann das nach sich ziehen?

Kinder werden oft bereits im Babyalter zu Leistungsträgern. Der Förderwahn geht heute ja schon sehr früh los. Eltern, die mit ihrem Kind nicht die entsprechenden Kurse belegen, gelten als unfortschrittlich. Im Kindergarten geht es mit Englisch oder Computerprogrammen für Vorschulkinder weiter. Dabei werden häufig bei Kindern von Eltern, die viel Wert auf Frühförderung legen, schon vor der Einschulung Stresssymptome festgestellt. Die Kinder spüren, dass ihre Leistungen in der Schule bereits lange vor der Einschulung einen hohen Stellenwert haben – mit fatalen Folgen, wie britische Forscher festgestellt haben: Diese konnten bereits drei bis sechs Monate vor dem Schulstart erhöhte Mengen des Stresshormons Kortisol im Körper von Vorschulkindern nachweisen.

 

Gibt es zwischen den Ergebnissen der PISA-Studie und dem Einschulungsalter einen Zusammenhang?

Und ob. Politiker fragen sich immer noch, warum deutsche Schüler bei PISA so schlecht abgeschnitten haben – im Gegensatz zum Spitzenreiter Finnland. Mit Sicherheit spielt dabei auch das Einschulungsalter eine große Rolle. Immerhin werden in Finnland alle und in Schweden fast alle Kinder mit sieben Jahren eingeschult. Und es ist in keiner Weise so, dass die kleinen Finnen oder Schweden bereits in der Vorschule Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt hätten. Ein Grund für das gute Abschneiden der finnischen Schüler könnte sein, dass die Kinder älter und damit reifer waren, als sie in die Schule kamen. Hinzu kommt: Die 15-jährigen finnischen Schüler haben ein bis zwei Jahre kürzer die Schule besucht als die 15-Jährigen der meisten andern PISA-Länder. Auch hier gibt es einen signifikanten Unterschied: Das finnische Schulsystem ist deshalb so effektiv, weil Problemschüler professionell und kontinuierlich gefördert werden. Und gut lernende Schüler müssen nicht Jahre lang am Unterricht teilnehmen, von dem sie nicht mehr profitieren. Politiker und alle, die einen früheren Schuleintritt propagieren, können es drehen und wenden, wie sie wollen. Fest steht – und das wurde durch die oben angeführten Studien belegt: Freies und auch angeleitetes Spielen, das Wahrnehmen von sinnvollen Handlungszusammenhängen, den Kindern im Kindergarten und zu Hause viele Gelegenheiten geben, die Dinge selber zu tun, um auf diese Weise elementare Erfahrungen zu sammeln – all dies ist für die intellektuelle, emotionale und soziale Entwicklung von Kindern vor der Schulreife erheblich wichtiger als eine zu frühe schulische Vermittlung von Lesen, Schreiben und Rechnen.

 

Gibt es verbindliche Merkmale der Schulreife eines Kindes?

Merkmale der Schulreifung dürfen nie ein Kriterienkatalog sein. Die wenigsten Kinder werden voll und ganz alle Merkmale zur selben Zeit und in gleicher Weise ausgebildet haben. Die folgenden Kriterien sollten Eltern, Erzieher(inne)n, Lehrer(inne)n als grobe Einschätzung dienen. So sollte ein schulreifes Kind die meisten der folgenden Dinge tun können: auf einem Balken vorwärts laufen, einen Ball fangen und werfen, auf dem rechten oder dem linken Fuß hüpfen, mit abwechselnden Füßen auf jeder Stufe Treppen steigen, die Hände mit dem angespreizten Daumen anstatt die geschlossene Hand zum Gruß anbieten, Knöpfe und Reißverschlüsse an Kleidern öffnen und schließen, eventuell Schleifen binden. Darüber hinaus gibt es soziale und emotionale Entwicklungsmerkmale der Schulreife, etwa die Fähigkeit, bei angebotenen Aktivitäten mitzumachen, Anweisungen und Aufgaben durchzuhalten, eine kleine Geschichte in ihren wesentlichen Elementen nachzuerzählen, die Zuwendung von Eltern oder der Erzieherin mit anderen zu teilen. Ein typisches Anzeichen beim Malen eines schulreifen Kindes: Es stellt Menschen, Häuser, Bäume auf das Gras oder den Boden am untern Bildrand. Wir sollten eine Pädagogik der Entschleunigung entwickeln und so den Kindern ihre Zeit geben, um reif zu werden für die Schule.

 

Herr Lang, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Dieses Interview führte Jette Lindholm für unsere Redaktion.

Bücher zu den entsprechenden Themen:

Schule und Lernen oder Wie Kinder lernen

In der Reihe „Recht auf Kindheit – ein Menchenrecht“ ist unter anderem der Titel „Kinder und Computer – Argumente aus der Waldorfpädagogik“ erschienen. Eine lesenswerte und informative Broschüre mit Beiträgen verschiedener Autoren.

Zu den verschiedenen Heften aus der Reihe "Recht auf Kindheit"klicken Sie bitte hier .

Auf der Internetseite www.waldorfkindergartenseminar.de finden Sie weitere wertvolle Informationen, Schriften aus der Reihe „Recht auf Kindheit – ein Menschenrecht“ sowie ein Faltblatt von Peter Lang „Was Kinder brauchen“ zum Herunterladen.


 
Das Online-Portal für Eltern

Reduction reason0

NRC

Reduction reason0

NRC