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Kinder brauchen Kinder für ihre Persönlichkeitsentwicklung

"Von Eltern wird heute vieles verlangt. Sie sollen für alles verantwortlich sein – von der Lebensfreude über den Lernerfolg bis hin zur Persönlichkeit ihrer Kinder. Auch die Hirnforschung zeigte bisher immer wieder gern mit dem Finger auf Mütter und Väter und machte sie dafür verantwortlich, dass sich im Gehirn ihres Kindes auch wirklich genügend Synapsen bilden, und dazu noch an den richtigen Stellen... Schließlich seien sie es, die den hilflosen Kleinen ihre wichtigsten Erfahrungen vermittelten. Auf Eltern wurde so ein ungeheurer Druck ausgeübt, ihre Kleinen maximal zu fördern, am besten schon in der Schwangerschaft. Doch zum Glück kann die heutige Entwicklungspsychologie die Eltern entlasten.

Führende Wissenschaftler wie etwa die Psychologie-Professoren Steven Pinker und Jerome Kagan schließen aus Untersuchungen an einer großen Zahl von Kindern, dass sich zumindest die Persönlichkeit der Kinder zum größten Teil unabhängig vom Erziehungsstil der Eltern ausbildet“, sagt der Kinderarzt, Wissenschaftler und Buchautor Dr. Herbert Renz-Polster.

Dr. Herbert Renz-Polster, Jahrgang 1960, ist Kinderarzt, Buchautor und Dozent am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Dort erforscht er seit Jahren intensiv, wie die Entwicklung von Kindern mit Hilfe der Evolutionstheorie besser verstanden werden kann. Er ist Vater von vier Kindern und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Ravensburg.

Wie lässt sich eigentlich das Wort „Persönlichkeit“ definieren?

Dr. Renz-Polster: Die „Persönlichkeit“ ist so quasi die emotionale Grundhaltung, mit der ein Mensch auf die Welt zugeht – also etwa, wie umgänglich, extrovertiert, gewissenhaft oder gegenüber Neuem aufgeschlossen ein Mensch ist. Diese Facetten unseres „sozialen Ich“ sind teils anlagebedingt, teils aber bilden sie sich als Reaktion auf die Lebenserfahrungen aus – und das ab der frühen Kindheit.

 

Und das soll all die vielen Unterschiede zwischen den Menschen erklären?

Beileibe nicht! Die Persönlichkeit, so wie psychologische Tests sie definieren, beschreibt ja nur unsere emotionalen Reaktionsmuster, nicht aber unsere Lebensinhalte. Sie ist kein genaues Drehbuch für unser Leben! Zwei Menschen mit einer ähnlichen Persönlichkeit können extrem unterschiedlich sein, etwa in ihren Talenten, in ihren Werten und Überzeugungen, Träumen und Lebenszielen, in dem, was sie tun und lassen, und auch darin, wie erfolgreich sie im Leben sind.

Persönlichkeit und Individualität sind zwei Paar Stiefel. Wohin uns die Leitplanken unserer Persönlichkeit genau führen, da reden ganz stark die Lebensumstände mit. Und die Kultur! In den USA etwa kommen extrovertierte Jugendliche bei ihren Gleichaltrigen am besten an. In Asien dagegen werden eher zurückhaltende Typen bevorzugt ...

 

Und doch ist unsere Persönlichkeit ein wichtiger Teil unseres Selbst. Und DARAUF soll die Erziehung keinen Einfluss haben?

Schauen wir es doch einmal ganz nüchtern an: Die Zukunft eines Kindes liegt außerhalb der Familie – nämlich bei den in etwa Gleichaltrigen. Mit diesen konkurriert es, unter diesen sucht und findet es seine zukünftigen Partner, in deren Gesellschaft muss es sich ein Leben lang bewähren. Die Strategien, die es dazu braucht, lassen sich schlecht bei Mama abkupfern, oder? Noch eines kommt dazu: Menschen legen es darauf an, die Welt zu ändern – und ihr Leben zu verbessern. Deshalb werden Erfindungen gemacht und sind schon bald darauf ein alter Hut. Und deshalb ist die Welt, die Kindern einmal begegnet, eine andere Welt als die, in der die Eltern erfolgreich waren. Eine Lebensstrategie, die heute erfolgreich ist, kann schon morgen den sozialen Abstieg bedeuten. Wäre es da sinnvoll, wenn Kinder Kopien ihrer Eltern sein wollten? Wäre es ratsam, sich nur auf das Bewährte zu verlassen? Ganz im Gegenteil: Kinder dürfen nicht festgelegt sein. Sie müssen aus dem Bezugsrahmen ihrer Eltern heraustreten wollen und können. Und darin liegt ja vielleicht sogar eine Hoffnung. Denn evolutionär gedacht sind wir Erwachsenen derzeit nicht sonderlich erfolgreich: Wenn nicht alle Zeichen trügen, sind wir dabei, unsere Lebensgrundlagen unwiderbringlich zu zerstören. Da wäre eigentlich nur zu hoffen, dass unsere Kinder eben nicht in unsere Fußstapfen treten!

Wenn die Eltern schon nicht der Stempel sind, der die Kinder prägt, spielt die Geschwisterkonstellation eine Rolle bei der Entwicklung der Persönlichkeit?

Die Geburtenfolge hat sehr wohl einen Einfluss auf das Verhalten und die Rolle innerhalb der Familie. Aber wie wir auf die Welt dort draußen zugehen, das bestimmen die Erfahrungen mit den Geschwistern nicht. Auch das lässt sich aus der Sicht des Kindes eigentlich leicht verstehen: Natürlich macht es innerhalb der Familie einen Unterschied, ob ein Kind das größere ist oder das kleinere.

Aber im Kindergarten gehört der zuhause seinem Bruder überlegene Tim womöglich zu den schwächeren Kindern. Es wäre nicht klug, es da mit dem gleichen Verhalten zu versuchen wie zuhause... Wie man zu Hause behandelt wird, sagt für das Leben in der großen weiten Welt einfach zu wenig aus. Fast jedes Kind wird zu Hause positiv bewertet – das heißt aber nicht, dass in der Kindergruppe alle Kinder gleich gut ankommen. Da werden die Karten sozusagen neu gemischt. Manche der zuhause sehr geschätzten Kinder setzen ihren Selbstwert eher hoch, andere eher niedrig an. Ihre Informationen, wie gut sie bei anderen ankommen, beziehen sie also weniger von den Eltern als vielmehr von ihren Spiel- und Lernkameraden. Entwicklungspsychologen nennen das kontextspezifisches Lernen. Das heißt: Kinder beziehen Gelerntes nur auf das konkrete soziale Umfeld, in dem sie es gelernt haben. Sie wachsen sozusagen sozial mehrsprachig auf.

 

Wirkt sich der in Kindergruppen oft anzutreffende Gruppenzwang nicht negativ aus?

Eltern fürchten ja, dass in der Gruppe alle Kinder gleichgemacht werden. Aber das stimmt nicht – die Kinder werden sowohl gleich, als auch unterschiedlich! Auch diese paradoxe Aussage kann man nur aus dem Blickwinkel der Kinder verstehen.

Da begegnen uns zwei widerstrebende Zielsetzungen: Einerseits sollten Kinder lernen, mit den anderen Kindern in der Gruppe zurechtzukommen. Denn nur, wer mit den anderen klar kommt, hat einen Gewinn – Spielkameraden etwa oder Anerkennung. Kinder wollen aber nicht nur von der Gruppe akzeptiert sein, sie wollen auch aus der Gruppe herausragen. Sie wollen Dinge besser können als die anderen. Und sie wollen dafür Lob und Anerkennung bekommen.

Kurz: Sie wollen sich Status in der Gruppe sichern. Und deshalb suchen sie Nischen, in denen sie glänzen und ihre Talente entfalten können. Und diese Suche nach Auszeichnung und Status sorgt dafür, dass Kinder eben nicht alles so machen wie die anderen, sondern sich in der Gruppe auch „spezialisieren“ – und damit unähnlicher werden. Das heißt: Kinder schwanken ständig zwischen zwei Zielen. Sie wollen nicht hervorstechen, aber sie wollen doch irgendwie herausragend sein. Sie wollen zwar das machen, was ihre Freunde machen, sie wollen aber auch etwas Besonderes sein. Da sieht man mal, wie anstrengend es ist Kind zu sein!

 

Wie sehen Kinder sich selber in einer Gruppe, und woran orientieren sie sich?

Zunächst einmal vergleichen sich Kinder wenig und fügen sich einfach ein. In der mittleren Kindheit aber beginnen sie soziale Vergleiche anzustellen und Kategorien zu bilden: zuerst „die“ Mädchen und „die“ Jungen, später werden die Unterscheidungen feiner, etwa die Anhänger des FC Bayern und des VfB Stuttgart. Und sie lernen nach und nach, wo sie im Vergleich zu anderen stehen, wie geschickt, stark oder einfallsreich sie sind. Wenn Kinder in den Kindergarten kommen, fehlt ihnen dieser Vergleichsrahmen zunächst. Fragt man vierjährige Jungen in der Gruppe, wer von ihnen der Stärkste ist, so gehen alle Hände hoch. Mit Fünf oder sechs Jahren dagegen deuten alle auf den gleichen Jungen. Auch wenn Kinder jetzt ganz gut wissen, wie sie im Vergleich mit jedem einzelnen konkreten anderen Kind abschneiden, denken viele dennoch, sie seien stärker als die meisten anderen.

Wie lernen Kinder ihre eigenen Stärken und Schwächen einzuschätzen?

Zum einen durch tägliche Erfahrung. Wenn Kinder etwa miteinander raufen, so lernen sie dabei auch, wer der Stärkere ist, beim Wettlauf, wer der Schnellere ist, beim Balancieren, wer der Geschicktere ist und so weiter. Diese sozialen Einparkhilfen werden als Dominanzerfahrungen bezeichnet. Aber da ist noch etwas viel Wichtigeres: Jedes Kind spürt instinktiv, wie es von der Gruppe insgesamt bewertet wird, welchen Einfluss es hat und wie viel Respekt es von den anderen bekommt. Diese Bewertung wird auch als Status bezeichnet. Und schon Kinder haben dafür ein feines Gespür.

 

Das heißt: Kinder brauchen für ihre Persönlichkeitsentwicklung vor allem andere Kinder?

Ja, genau! Und da spielen auch die älteren Kinder eine wichtige Rolle. Je mehr ältere Geschwister ein Kind hat, desto früher gelingt es ihm zum Beispiel, die Welt aus der Perspektive des anderen Kindes zu betrachten und zu verstehen. Ältere Kinder spielen aber auch in der Kindergruppe eine bereichernde Rolle. Denn sie bauen den jüngeren im Spiel unbewusst „Entwicklungsbrücken“. Das heißt: Das ältere Kind regt das jüngere an, sich körperlich, geistig und emotional über sich selbst hinauszustrecken.

Zudem durchläuft ein Kind in einer gemischtaltrigen Kindergruppe viele soziale Stationen. Am Anfang hört es eher zu, als älteres Kind wird ihm eher zugehört. So kann sich bei jedem Kind ein gesundes Selbstbewusstsein ausbilden. Bei den heute oft bevorzugten gleichaltrigen Kindergruppen dagegen kauert jedes Kind sozusagen in immer derselben Nische: einmal Loser, immer Loser – das ist eine Gefahr.

Kleine Familien und leere Spielstraßen werden auf absehbare Zeit Realität sein. Umso wichtiger ist es deshalb, die Lebenswelten von Kindern neu aufzustellen und soziale Entwicklungsräume neu zu gestalten. Entwicklungsgerechte Förderung heißt nun einmal, dass nicht nur das Kind auf die Gesellschaft vorbereitet wird, sondern auch die Gesellschaft auf das Kind: ein in vielen Diskussionen um „Rabeneltern“ oder „kleine Tyrannen“ gerne unterschlagener Ansatz.

 

Herr Dr. Renz-Polster, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für die Redaktion

Weitere Informationen über Dr. Herbert Renz-Polster finden Sie unter: www.kinder-verstehen.de

Buchtipp

Herbert Renz-Polster:

Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt

Kinder verhalten sich oft nicht so, wie es ihre Eltern von ihnen erwarten und wünschen: Babys weinen ohne Angabe von Gründen, sie haben wochenlang Koliken, und sie wollen partout nicht im eigenen Bettchen schlafen. Kleinkinder essen kein Gemüse, dafür Süßigkeiten ohne Grenzen, sie schlafen schlecht ein und wachen nachts unregelmäßig auf. Sie bekommen aus heiterem Himmel Wutanfälle und lassen sich beim Sauberwerden endlos Zeit. Es hat sich eingebürgert, all das als ein Defizit der Kinder zu sehen: Sie sind eben noch nicht in der Lage, sich verständlich zu machen.

Ihre Blasenfunktion ist noch „unreif“, ihr Gehirn eine Baustelle. Oder sie tragen mit ihrem Verhalten irgendwelche Konflikte aus – mit sich, der Mutter oder ihrem Über-Ich. Oder sie sind einfach „unerzogen“. Diesem Buch liegt eine andere Sichtweise zugrunde. Statt nach dem zu suchen, was unseren Kindern fehlt, fragt es nach den Vorteilen, die ein bestimmtes Verhalten bietet Was bringt es dem Kind, so zu sein, wie es ist – und nicht anders? Also: Was hat das Kind davon, kein Gemüse zu essen? Was hat es davon, den Teller nicht leer zu essen? Was hat es vom Trotzen, was von dem Geschrei, wenn es alleine einschlafen soll? Kurz, dieses Buch nimmt an, dass Kinder gute Gründe haben, wenn sie ihre Eltern vor Rätsel stellen. Das gedankliche Werkzeug, mit dem in dem Buch die Kindheit betrachtet wird, ist die Evolutionstheorie. Dieses von Charles Darwin begründete Gedankengebäude geht davon aus, dass die heutigen Lebewesen deshalb so aussehen wie sie aussehen und sich so verhalten wie sie sich verhalten, weil sie mit diesen Eigenschaften in der Vergangenheit Erfolg hatten. Und das gilt auch für unsere Kinder. Dass sie in ihrer Entwicklung auf das den Eltern einschlägig bekannte Repertoire setzen, hat einen einfachen Grund: Es hat ihnen geholfen, besser in der Umwelt zurechtzukommen, in der sie über Hunderttausende von Jahren gelebt haben! Das legt eine radikal andere Sicht der Entwicklung des Kindes nahe: Kindern fehlt es an nichts. Sie mögen unfertige Erwachsene sein – aber sie sind hundertprozentig dafür ausgerüstet, Kinder zu sein. Das Buch zeigt Eltern, wie Kinder ihre Stärken entwickeln und was das für den Erziehungsalltag bedeuten kann – damit sich Eltern und Kinder auch in der heutigen Umwelt wieder „natürlicher“ begegnen können.

512 Seiten, Kösel Verlag, München

 
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