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Was tun, wenn mein Baby schreit?

Manche Babys kommen einfach nicht zur Ruhe und schreien manchmal bis auf kleine Pausen über Stunden, Tage oder Wochen hinweg, das ist eine enorme Belastungsprobe für betroffene Eltern. Welches die Gründe für das Schreien sein können, wie Eltern dabei an ihre physischen und psychischen Grenzen kommen und was ihnen dann hilft, beschreibt Paula Diederichs, die Leiter*in der Schreibaby-Ambulanz Berlin Mitte, im Interview. 

 

“Auch, wenn vor oder unter der Geburt schwierige Situationen oder Komplikationen aufgetreten sind, heißt das nicht, dass die Chance auf Bindung oder Heilung für immer vertan ist. Bindung, Liebe und Gesundheit kann man auch im Nachhinein noch sehr gut erreichen. Wir müssen diese Zusammenhänge erklären, damit Frauen wieder Hoffnung schöpfen können.“

 

Paula Diederichs ist Körperpsychotherapeutin, Sozialpädagogin, Heilpraktikerin und Erzieherin und leitet die Schreibaby-Ambulanz Berlin Mitte sowie das WIKK Institut, welches Weiterbildungen zur Krisenbegleiterin für Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit anbietet. Sie hat eine Ausbildung in Körperpsychotherapie von 1981 bis 1985 in Berlin absolviert. Dort hat sie Eva Reich kennengelernt und mit ihr jahrelang zusammengearbeitet. Das Thema Frauengesundheit lag Eva Reich sehr am Herzen und dieses führt Paula Diederichs in ihrem Leben fort. Als Körpertherapeutin mit dem Spezialgebiet Schwangerschaft/Geburt und frühe Kindheit führt sie außerdem ihre private Praxis für Körperpsychotherapie mit den Schwerpunkten Geburtstraumatisierungen und Bindungsstörungen.

https://www.pauladiederichs.de

 

 

Sie ist zudem Vorstandsmitglied der ISPPM e.V. (International Society for prenatal and perinatal psychology and medicine) und war Präsidentin des Vereins.

https://www.Isppm.ngo

 

Im Rahmen ihrer politischen Vision von Aufklärung über Frauengesundheit  unter der Geburt  hat sie zusammen mit   Mother Hood e.V.  das Hilfetelefon „Schwierige Geburt“ ins Leben gerufen. Telefon 0228.92959970

https://hilfetelefon-schwierige-geburt.de

Frau Diederichs, wann sprechen wir von einem Schreibaby?

Die wissenschaftliche Definition kommt von dem amerikanischen Kinderarzt Wessel: schreit ein Baby innerhalb von drei Wochen an drei Tagen mindestens für drei Stunden. Das heißt aber nicht, dass diese Zeiten so erfüllt sein müssen, um in einer SchreiBabyAmbulanz Hilfe zu bekommen!

 

Wie viele Kinder sind davon betroffen?

Nach Schätzungen von Kinder- und Jugendlichenärzt*innen schätzen wir, dass 20 bis 25 Prozent der Babys so schreien wie beschrieben. Diese Kinder sind so stressüberflutet, dass sie aus dem Stress erst einmal nicht alleine herauskommen.

 

Gab es früher auch schon Schreibabys?

Diese Babys gab es schon, aber es gab natürlich eine ganz andere Herangehensweise an Kinder und Kindererziehung, es wurde ja gar nicht so auf das seelische Wohlbefinden von Müttern und deren Babys geachtet. 

Lange geisterte in der Bundesrepublik sogar noch das Buch von Johanna Haarer "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind” herum, das aus der sogenannten “Schwarzen Pädagogik“ stammt und darauf abzielte, die Gefühle von Müttern und Kindern möglichst zu stählen. Das haben wir leider teils im Erziehungsstil immer noch verinnerlicht.

Dann hatten wir die Aufbruch-Pädagogik der 68-Bewegung und Bindungsforschung. Die Ansprüche für das Wohlergehen des Babys, die aus der Bindungsforschung entstanden, verbunden mit den Werten der Leistungsgesellschaft haben einen schwierigen Cocktail für die arbeitenden Mütter ergeben, die plötzlich unter sehr viel Druck stehen. Mütter, die bislang beispielsweise Abteilungen geleitet haben und plötzlich mit dem Baby zuhause sind, müssen eine enorme Umstellung verkraften. Die Ansprüche, die in beiden Welten an sie gestellt werden, sind ein Unterschied wie Tag und Nacht, als ob sie vom Mars auf die Venus katapultiert wurden. Wenn sie dann noch ein Schreibaby haben, das sie nicht beruhigen können, kommen sie ins Schleudern.

 

Womit hat das zu tun?

Wenn Mutterschaft entsteht, verändern wir uns, das werdende Kind in uns lässt die Verantwortung dafür entstehen, eventuell machen wir uns Sorgen um unser Kind, aber auch der Blick auf die Welt, in die das Kind geboren wird, kann sich verändern. 

Eine emotional gute Mutter zu sein, heißt intuitiv zu sein und mit dem Kind emotional sicher ausgewogen zu agieren. Dies steht aber im Widerspruch zu einer männlich patriarchalisch geprägten Leistungsgesellschaft. Einem Kind kann man aber eben nicht auf Knopfdruck oder mit Leistung gerecht werden, hierfür sind andere Qualitäten gefordert wie Hingabe, Geduld, bedingungslose Liebe.

Die Umstellung als Frau in die Mutterschaft ist die größte Veränderung im Leben einer Frau, dies kann zu ausgewachsenen Krisen führen. Aber auf der anderen Seite: Die Kraft der Mutterliebe ist die größte Kraft der Natur. Schwangerschaft und Geburt bedeutet die größte Arbeit des weiblichen Körpers, er produziert einen neuen Menschen.

 

Kann man Zeiten eingrenzen, wenn Kinder besonders viel schreien? 

Ein gewisses Maß an Schreien ist ja normal, denn es ist die einzige Möglichkeit eines Säuglings, seinen Unmut kundzutun. Wenn Babys Stress haben, können sie nur strampeln oder schreien. Alle Babys schreien innerhalb der ersten sechs und acht Wochen, um ihr Unwohlsein anzuzeigen, das ist normales Schreien. Hunger, Durst, die Windel ist voll oder der Wunsch nach Zuwendung sind gute Gründe fürs Schreien.

Natürlich gibt es Unterschiede in der Häufigkeit und Intensität von Schreien: ein herzerweichendes Schreien, wenn Kinder so weinen, können Eltern auf sie eingehen, sie lassen sich beruhigen, und es entsteht eine Herzensbindung.

Dann gibt es ein sogenanntes Kolik-Schreien, das mit der Verdauung zu tun hat und das oft in den Abendstunden auftritt. 

Dann gibt es ein schrilles Schreien, bei dem sich die Babys hart wie ein Brett machen, das hören wir eher bei den so genannten Schreibabys. Hier wird es schwierig.

Zunächst sollte man hinhören, welche Form vorliegt. 

 

Früher nannte man das Schreien bei Verdauungsproblemen die drei Monatskoliken?

Auch bei den drei Monats-Koliken kann man ja fragen, warum die Kinder anfangs so viel schreien. Warum machen die Babys das? Für ein Baby ist es eine enorme Umstellung vom Mutterleib auf unsere Welt zu kommen, selbst wenn die Schwangerschaft normal war. Die Verdauung, die Atmung, der Wärmehaushalt, das muss alles neu reguliert werden, und ein Tag- und Nachtrhythmus muss sich herausbilden. Im Mutterleib konnte das Baby schlafen, wenn es wollte. Nun soll es sich plötzlich nach uns richten. Das alles zusammen erzeugt Stress auf beiden Seiten. Das alles versuche ich den Eltern zunächst zu erklären. Oft ist es schon entlastend, um diese Vorgänge zu wissen und zu verstehen, dass sie nicht schuld sind, dass es in gewissem Maße normal ist, dass das Kind schreit. Es sei denn, es liegt eine körperliche Ursache zu Grunde, doch dazu später. 

Was hat es mit dem schrillen Schreien auf sich, woher kommt das denn? Weiß man das?

Eva Reich, mit der ich ja einige Jahre zusammen gearbeitet habe, hat mir damals den Auftrag gegeben unbedingt diese Frühprävention in die jungen Familien zu bringen. Das habe ich dann auch ab 1996 mit dem Einstieg in die erste bestehende SchreiBabyAmbulanz getan. Weiterhin bin ich zusätzlich zur Körperpsychotherapie noch in die Pränatale Psychologie eingestiegen. Dort habe ich dann von Ludwig Janus das Schwangerschaftsskript und das Geburtsskript kennengelernt.

Schwangerschaftsskript: Das bedeutet, dass das erste Zuhause eines Menschen nicht das Baby- oder Familienbett ist, sondern die Gebärmutter, und alles, was wir dort erlebt haben wird unbewusst zu unserem Grundlebensgefühl und ist in einem zellulären Bewusstsein gespeichert. Wenn die Babys sogenannte Auffälligkeiten haben, erzählen sie uns sozusagen ihre Schwangerschafts- und Geburtsgeschichte. Wie gut emotional aufgehoben wir uns im späteren Leben fühlen, kann auch mit der Zeit in der Gebärmutter zu tun haben, also wie sich unsere Mutter mit uns in ihrer Schwangerschaft gefühlt hat, ist uns übertragen worden.War das Kind gewünscht, war es unerwünscht? War die Mutter in der Schwangerschaft zum großen Teil im Urvertrauen oder im Urmisstrauen?  Durch eine schwierige Schwangerschaft, eine schwierige Geburt oder einen Aufenthalt in der Intensivstation kann es passieren, dass die Bindung vielleicht nicht ideal verlaufen ist und dass Kind und Mutter ein emotional- körperliches Trauma erlitten haben.

Das Geburtsskript bedeutet: Die Geburt ist die Wanderung von der Gebärmutter durch den engen Geburtskanal nach draußen, der Übergang oder Transistion. Wie dieser Übergang während der Geburt stattgefunden hat, so gestalten wir natürlich unbewusst unsere Übergänge im Leben, bspw. das Einschlafen, das Ablösen in die Kita, das Ablösen in die Schule, in der Pubertät; davon ist die Pränatalpsychologie überzeugt. War die Geburt schwierig oder nicht? Wie war das Geburtshelfer-Team? Stärkend und stützend? Selbst eine schwierige Risikogeburt kann mit einem guten Team zu einer guten Geburt werden. Im Umkehrschluss kann auch eine voraussichtlich einfache normale Geburt in der Klinik zu einem traumatischen Erlebnis werden, wenn die Frau unbedarft in die Klinik geht, zunächst alles normal ist und plötzlich bspw. wegen Personalmangels ein Bruch passiert, sei es emotional oder medizinisch. Wenn die Frau in der Klinik schlecht versorgt wird, kann das trotz guter Voraussetzungen plötzlich zum Desaster führen.

Dann können emotionale Notstände und körperliche Verletzungen entstehen, und der gute Start ins Leben wird durch traumatische Erfahrungen unter der Geburt ersetzt, die Schuldgefühle bei der Mutter hervorrufen und bishin zu postpartalen Depressionen und zu Regulationsstörungen beim Baby führen. Dann lässt es sich nicht beruhigen. Weil sein Selbstregulationssystem durch diese Erlebnisse blockiert ist, und es nur noch ungefiltert seinen Stress herausschreien muss. Die Mutter und das Baby sind beide so gestresst und “kommen nicht mehr runter”, sie befinden sich in einem Teufelskreislauf.

In diesen Fällen fungiere ich wie eine Dolmetscherin, die beiden erklärt, was geschehen und schiefgelaufen ist, um dann mit ihnen zusammen den Weg zur Entspannung zu finden.

Denn auch, wenn unter der Geburt solche Komplikationen aufgetreten sind, heißt das nicht, dass die Chance auf Bindung oder Heilung für immer vertan ist. Bindung, Liebe und Gesundheit kann man auch im Nachhinein noch sehr sehr gut erreichen. Allein, wenn ich diese Zusammenhänge erkläre, hilft das Frauen mit Schreibabys, wieder Hoffnung zu schöpfen. Eva Reichs Lieblingsaussage war: Es ist nie zu spät!!

 

Sind also für das Schreien immer die emotionalen Zustände in der Schwangerschaft oder unter der Geburt verantwortlich ?

Nein, auf keinen Fall, so darf man nicht denken.

Bei den Säuglingen, die viel weinen, ist es ganz wichtig zu überprüfen, ob es nicht auch funktionelle Störungen gibt. Es liegt definitiv nicht immer Bindungsstörung oder Trauma vor, wenn ein Kind viel schreit.

Vorher muss kinderärztlich abgeklärt sein, ob die Kinder medizinisch gesund sind.

Unter der Geburt muss das Kind ja zwei Drehungen mit seinem Köpfchen machen; wenn es dabei zu Stockungen und Stauungen kommt, kann es sein, dass die Nerven oder Bänder der Babys gequetscht oder gestaucht sind. Hier muss unbedingt ein Physiotherapeut und/oder ein Osteopath behandeln, damit diese physikalischen Blockierungen aufgehoben werden.

Es kann z.B. das Kopfgelenk betroffen sein und zu einer Seite blockieren, dann liegt eine Kopfgelenk-Symmetrie-Störung vor, die auch das Verdauungssystem betreffen kann. Hier kann dann der Vagus-Nerv gestaucht sein, dieser ist für die Verdauung zuständig. Wenn diese Stauchung dann behoben wird, sind die Verdauungsprobleme weg.

Wenn ein Kind viel weint, kann es auch damit zu tun haben, dass die Geburt sehr schwierig war. Dann ist es meistens so, dass die Mütter das Gefühl haben, sie haben ihrem Kind keinen guten Start gegeben, weil die Geburt Blessuren hinterlassen hat und ihnen emotional immer noch weh tut.  Jede Mutter möchte ihr Kind lieben und möchte die beste Mutter sein. Wenn das Kind jedoch permanent schreit, die Schwangerschaft und die Geburt schwierig waren, oder danach schlimme Dinge passiert sind, hat das zur Folge, dass die Frau ein schlechtes Gewissen hat, oft schämt sie sich vor sich selbst, der Familie und der Gesellschaft. Ich vermittle dann den Satz von Winnicott,  dass es vollkommen in Ordnung ist, eine “gut genug Mutter” und nicht die perfekte Mutter (good enough mother) zu sein. “

Es ist also ein sehr feines Weben, bis die Bindung von Mutter und Kind entsteht?

Ja. Es ist etwas Prägendes passiert, aber im ersten Jahr nach der Geburt sind Mutter und Kind noch im Akutstadium, wo alles noch fließt, wo sich alles noch zum Guten wenden kann, es hat sich noch kein Trauma verkapselt und so lange wir im Gespräch darüber sind, kann alles heilen.

Ich arbeite mit den Müttern an ihren Schuldgefühlen, ich helfe ihnen, zu akzeptieren, was geschehen ist. Sich nicht zu geißeln, sondern sich zu sagen: Gestern war gestern, das verzeihe ich mir, und heute ist heute und ich kann jeden Tag und sogar jeden Moment neu beginnen.

Denn das Beziehungskonstrukt zwischen Mutter und Kind lässt sich vor allem im ersten Lebensjahr in jedem Moment neu flechten. Das ist eine sehr intensive Arbeit mit dem Ziel, dass die Mütter zunächst sich selbst wieder spüren, sich entspannen können. Das überträgt sich dann auch auf die Babys.

 

Wie geht es den Eltern eines Schreibabys? 

Die Eltern sind in einem dauernden Ausnahmezustand mit sehr hohem negativen Energieniveau, sie sind nicht mehr Herr der Lage, sondern fremdgesteuert und getriggert von den Schreien ihres Kindes. 

Sie leiden zunächst natürlich furchtbar unter dem Lärmpegel. Das Kind brüllt in der Lautstärke eines Presslufthammers, bei dem im normalen Arbeitsleben Schallschutzkopfhörer getragen werden müssten und das meistens ununterbrochen. Wenn die Eltern eines solchen Schreibabys in die Ambulanz kommen, sind sie fix und fertig. Sie haben schon 100 fruchtlose Ratschläge bekommen und alles ausprobiert, um das Schreien abzustellen: stundenlanges Stillen oder Herumtragen, Singen, Wiegen, Schaukeln, im Kinderwagen herumfahren, auf dem Gymnastikball hüpfen, mit dem Auto um den Stock fahren. Unglücklicherweise haben sie dabei oft das Gegenteil erreicht und sich mit ihrem Baby gegenseitig hochgeschaukelt. Diese Eltern haben schon so viel hinter sich und wahnsinnig viel geleistet, sie sind verzweifelt. 

 

Wie können Eltern in dieser Lage eine Kurzschlusshandlung vermeiden?

Die Gefahr besteht, dass Eltern in eine Affekthandlung kommen könnten, wo ihr eigenes Gehirn ausgeschaltet wird und sie das Baby schütteln. Dann kann es zu dem gefährlichen „Schütteltrauma“ kommen. 

Ich rate Eltern in solchen Ausnahmesituationen dazu, das schreiende Baby ins Bettchen oder einen Laufstall zu legen, also irgendwohin, wo es sicher ist und dann selbst aus dem Raum zu gehen, vielleicht auf den Balkon um frische Luft zu schnappen, um durchzuatmen oder sich eine Tasse Tee zu machen oder sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen oder über die Handgelenke laufen zu lassen. Alles, was hilft, um wieder zu sich zu kommen und sich selbst wieder zu spüren. Damit sie aus dem Teufelskreislauf herauskommen. 

 

Wie können sie das schaffen?

Meist ist die Mutter oder der Partner, der mit dem Schreibaby alleine ist, vollkommen überfordert und kann nicht einmal mehr seine Grundbedürfnisse erfüllen. Die Mütter können nicht in Ruhe duschen, essen oder zur Toilette gehen. Wenn sie es überhaupt tun, dann unter größter Anspannung. Sie hatten sich auf das Baby gefreut und sind nun vollkommen überrollt von der Wendung, die ihr Leben plötzlich genommen hat, sie sind erschöpft und ohne Hoffnung auf Besserung. 

Mutter und Vater müssen unbedingt wieder zu ihren Grundbedürfnissen kommen. Ich frage konkret nach: Was essen Sie? Können Sie sich was bringen lassen? Wer könnte das übernehmen? Partner, Familie, Lieferdienst? Wer kann sonst helfen? Wir überlegen gemeinsam, wo Hilfe zu bekommen ist.

Wie helfen Sie diesen Eltern in Ihrer Ambulanz?

In der Ruhe liegt die Kraft. Wir müssen einen Fuß in die Tür kriegen, damit die Eltern wieder Hoffnung bekommen können, dass es für sie und ihr Baby besser werden kann. Wir erklären, dass wir schon vielen Eltern helfen konnten und sicherlich auch Ihnen den Leidensdruck werden nehmen können.

Wir spiegeln den Eltern, dass ihre Situation nicht nur für sie gefühlt furchtbar ist, sondern tatsächlich eine extreme Belastung darstellt, die bisher schon eine Hochleistung von Ihnen verlangt hat. In meiner Praxis können die Eltern zum ersten Mal seit Wochen oder Monaten anfangen durchzuatmen und Stück für Stück vom Überlebensmodus in einen normalen Lebensmodus wechseln. Bisher standen sie ja unter dem Druck, dass sie alleine dafür verantwortlich sind, das Schreien endlich abzustellen.

Das Schreien kommt immer wie eine Anklage bei den Eltern an. So ist es nicht erstaunlich, dass die Erklärungen, die ich zunächst gebe, sehr erleichternd wirken.

Es gibt Matratzen und Kissen auf dem Fußboden, und ich begegne den Eltern auf Augenhöhe, ohne Vorurteile und mit viel Ruhe. Unser Praxisraum ist sozusagen geschwängert von Ruhe. Ich lade die Eltern zunächst ein, anzukommen und auf den Matratzen und Kissen so entspannt wie es Ihnen möglich ist, Platz zu nehmen. Viele Eltern sind ja schon seit Wochen nur noch verkrampft und angespannt gewesen.

Dann lade ich ein, sich zumindest für eine Weile jetzt in meinen Räumen nicht vom Stress des Kindes anstecken zu lassen, sondern ruhig zu werden, um sich selbst zu spüren und das Heft sozusagen wieder in die Hand nehmen. Das Kind steht unter Strom und bestimmte ja bis dahin den Stresslevel der Eltern. Eltern können bei uns lernen, sich nicht von den Gefühlen überfluten zu lassen.

Ich versuche, Eltern dahin zu leiten, dass sie den Ausspruch des amerikanischen Theologen und Politikwissenschaftlers Reinhold Niebuhr beherzigen können:

„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Warum versuchen sie, Eltern vom Schuldgefühl zu entlasten?

Solange Eltern sich schuldig fühlen, ist es schwierig für sie, sich dem Kind gelassen und ruhig zuzuwenden. Wenn Eltern dahin kommen, sagen zu können, “Ich bin nicht schuld am Schreien, mein Kind ist, wie es ist”, wird es viel einfacher, das Baby anzunehmen, auch wenn es schreit und das Heft in die Hand zu nehmen. Es ist eine riesige Herausforderung für Eltern von Schreibabys, mit Überzeugung sagen zu können: “So, du darfst jetzt Deinen ganzen Schrecken herausschreien, so viel du willst und ich bleibe an deiner Seite, bis du den Stress herausgeschrien hast.”  Diesen Punkt zu erreichen ist ein Meilenstein in unserer Arbeit.

 

Wie gelingt das?

Dazu sind körperliche Achtsamkeitsübungen sehr sehr hilfreich. Ich leite Eltern an, ihren Körper wahrzunehmen, ihrem Atem zu lauschen und sich selbst zu spüren. Die meisten Eltern von Schreibabys sind ja in einer verkrampften Habachtstellung und fürchten den Moment, wenn das Schreien wieder losgeht. 

Dann geht es um Ruhe, um Achtsamkeit, kleine Körperübungen, Halteübungen und Massagen für das Baby.

Wenn sich das Kind noch nicht komplett in Wallung geschrien hat, beginne ich vorsichtige “Übungen” mit dem Kind, ich versuche, es kennenzulernen, Signale wahrzunehmen und zu deuten, bspw. wann das Kind mehr entspannt, wann es weniger entspannt ist. Ich versuche zu erspüren, wann es in Richtung Bretthaltung geht und wann die Zeichen auf Geschmeidigkeit stehen und unterstütze mit meinen Händen angenehme Momente. Ich betreibe sozusagen Hilfe zur Selbstregulation.

 

Was sollten Eltern eines Schreibabys unbedingt wissen? 

Eltern sollten verstehen, dass sie es mit Kindern zu tun haben, die nicht nur gefühlt, sondern tatsächlich einen erhöhten Zuwendungsbedarf haben. Zudem  müssen sie wissen, dass sie nicht schuld sind.

Wenn wir Eltern diese Schuldgefühle nehmen können, fällt eine große Last von ihnen ab. Denn die eine Belastung der Eltern ist das Schreien an sich, die andere, wenn nicht sogar größte Belastung ist, dass sie sich im schlimmsten Fall schuldig, im besten Falle verantwortlich dafür fühlen, das Kind ruhig stellen zu müssen und es einfach nicht können. Sich dann Hilfe zu suchen, um die Situation zu entspannen, ist ihre große Aufgabe.

 

Wer mehr über Paula Diederichs und ihre Arbeit erfahren möchte, kann hier weiterlesen:

https://www.pauladiederichs.de/

 

Buchtipp:

Paula Diederichs, Vera Olbricht

Unser Baby schreit so viel

 

Der Buchklassiker wird leider momentan nicht mehr aufgelegt, ist aber problemlos antiquarisch noch erhältlich. 

 
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