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Märchen hören, sehen und spielen

„Und er führte die Königstochter in sein Reich, wo er mit großer Freude empfangen ward, und sie lebten noch lange und glücklich bis ans Ende ihrer Tage“, beendet die Märchenerzählerin die Geschichte von Rapunzel. Leon, Karim und die anderen Kinder aus dem Kindergarten sitzen mucksmäuschenstill, so verzaubert sind sie von der Welt der schönen Mädchens, das so lange von der Zauberin im Turm festgehalten wird, bis ein junger Prinz den Weg zu ihr findet. Ganz behutsam lösen sich die Kinder von den Bildern ihrer Fantasiewelt, in die sie die letzte halbe Stunde eingetaucht waren.

 

Märchen geben Orientierung

Das Leben ist manchmal verwirrend, unfair und es verlangt einen langen Atem bis das Ziel erreicht ist.
Kinder lieben Märchen, weil es dort übersichtlich und am Ende gerecht zugeht. In Märchen kommt die Welt immer in Ordnung. Fleißige Mädchen werden mit Gold belohnt, faule Menschen mit Pech überschüttet, mutige Prinzen überwinden stachelige Dornenhecken, Königstöchter überlisten ihre strengen Väter mit List und arme Handwerker können mit Tapferkeit die Herzen von Prinzessinnen gewinnen. Kinder brauchen Märchen, denn mit ihrer Hilfe lernen sie, dass man die Welt gestalten und ändern kann. In Märchen erfahren sie, dass es Werte gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Wenn man sich für das Gute entscheidet, nimmt man dem Bösen die Macht. Das sind wichtige Botschaften.

 

Abtauchen in die Bildwelt der Märchen

Kinder tauchen beim Zuhören mit Fantasie ganz in die großartige Bilderwelt der Märchen ein. Dort gibt es Brüder, die zu Schwänen werden, Schwestern, die einem sprechenden Bären das Fell kämmen, undurchdringliche Dornenhecken, die sich plötzlich auftun, hohe Schloßmauern und tiefe Brunnen. Mädchentränen schaffen es, den geliebten und blinden Prinzen wieder sehend zu machen, Flachs wird zu Gold gesponnen und aus Fröschen werden Prinzen: die Bildwelt von Märchen ist mächtig, tiefgründig und voller Wunder.

Kinder erleben die Ereignisse voller Hingabe: Wird der Prinz das Aschenputtel finden? Werden die guten Feen am Ende ihr Versprechen halten? Wird Dornröschen wieder aus dem Schlaf erwachen? Wird das Gute siegen? Kinder verinnerlichen die Konflikte und Lösungen dabei in bildhafter Weise. Diesen Schatz tragen sie ein Leben lang in sich.

Sind Märchen nicht zu grausam für Kinder?

Viele Eltern kämpfen beim Umgang mit Märchen mit der Sorge, dass Kinder von der Grausamkeit erzählter Märchen überfordert sein könnten. Märchen erzählen Geschichten durch Bilder. Sie sind nicht wörtlich zu nehmen und halten sich bei der Schilderung, den Auswirkungen und Details der als grausam empfundenen Handlungen nicht auf. Sie sind nicht konkret und physisch gemeint und werden auch von Kindern nicht so gehört. Der Wolf oder die Hexe verkörpern für das Kind das Böse und es ist erleichtert, wenn dieses bestraft und überwunden wird, wenn dadurch alles wieder gut wird. Hier wird nicht von Menschen oder Tieren erzählt, sondern von Bösem und dem Bösen geschieht etwas, es wird bildlich vernichtet und besiegt. Kein Kind stellt sich den edlen Wolf vor, den es im Zoo sieht, wenn vom Wolf im Märchen die Rede ist und auch das Aufschneiden seines Bauches oder sein Ertrinken werden nicht körperlich konkret vorgestellt, wenn der Erwachsene dies nicht durch seine eigenen Beschreibungen oder inneren Bilder nahelegt. Sie selbst sollten diesen realistischen Bildern keinen Raum in ihrer Vorstellung geben, wenn Sie ein Märchen vorlesen. Wenn Sie sie aber doch haben, sollten Sie ein solches Märchen nicht erzählen. Kinder nehmen unsere innere Haltung viel stärker auf als wir denken.


Wenn Kinder Märchen aus dem Mund eines wohlmeinenden Menschen hören, können sie sich der Geschichte gut anvertrauen. Kinder haben einen natürlichen Schutz und in ihrer Fantasie entstehen normalerweise nur die Bilder, die für sie stimmig sind. Filmische Darstellungen dagegen, ob mit Schauspielern, Zeichentrick oder Animation berauben Kinder dieses Schutzes und der eigenen Bilder unwiderruflich. Sie geben den Grausamkeiten Konkretheit und geben ihnen ein reales Bild.

Wie man Kinder an Märchen heranführt

Als eines der ersten Märchen eignet sich die Geschichte „Der süße Brei“ der Gebrüder Grimm. Danach können „Der Froschkönig“ und „Rotkäppchen“ und andere Klassiker folgen. Kinder lieben die Wiederholung. Bleiben Sie daher ruhig eine Weile bei einem Märchen. Beim Erzählen oder Vorlesen braucht man weder dramatisieren noch etwas weglassen. Man kann sich getrost auf die althergebrachten Formulierungen und die Fantasiekräfte der Kinder verlassen.

 

Märchenkassetten und -filme sollte man meiden. Das direkt gesprochene Wort eines anwesenden Erwachsenen, der sich dem Kind zuwendet, macht einen großen Wert des Märchenzählens aus.

Eine ganz besonders schöne Geburtstagsidee: Märchen als Tischtheater erzählen

Etwas ganz Besonderes ist es für Kinder, wenn man das Märchen nicht nur vorliest oder erzählt, sondern ein kleines Tischtheater inszeniert. Dazu sollte man zu zweit sein und einige Holzfiguren zur Verfügung haben. Man braucht keine Fülle an Figuren, da das Repertoire an Hauptrollen im Märchen nicht groß ist und die Nebenfiguren nicht dargestellt werden müssen. Für Kinder ist es unvergesslich, wenn sich die Eltern zusammentun und so etwas für sie vorbereiten.

 

Aufbau

Auf einem kleinen Tischchen deutet man das Szenario mit wenigen Gegenständen an. Ein einziges Burgtor genügt, um ein ganzes Königsschloss zu simulieren, drei Tannen oder ein paar kleine Tannenzweige reichen aus, um den Wald darzustellen. Darunter legt man entsprechend farbige Tücher aus. Für die Goldkammer des Rumpelstilzchens beispielsweise braucht man lediglich ein goldfarbenes Tuch, das man über einen geschwungenen Ast legt, den Rest übernimmt das Vorstellungsvermögen der Kinder, sie träumen sich in das Märchen hinein.

 

Vorbereitung und Durchführung

Zunächst verinnerlicht man am besten das Märchen, indem man es einmal gründlich liest und sich die wichtigsten Stationen einprägt. Wo beginnt der Weg der Heldin oder des Helden, in welchem Umfeld bewegen sie sich und wo endet das Märchen? Den Weg baut man aus einfachsten Elementen.

Der Märchenerzähler liest langsam und getragen, auch hier gilt es, sich dem Märchen anzuvertrauen und sich auf die Worte der Überlieferung zu verlassen. Die Märchen sind in sich stimmig. Es ist nicht nötig, die Handlung oder Sprache zu modernisieren und auszuschmücken. Dramatische Momente sollte man nicht überbetonen oder unterschlagen, man kann einfach im Tonfall anklingen lassen, dass der Schreckmoment vorübergehend ist.


Märchenhafte Musik erklingt

Mit zarter Musik kann man das Märchen untermalen. Dazu muss man gar nicht gut spielen können! Ein paar Töne genügen völlig, um Kinder in den Bann zu ziehen. Der Erzähler kann beispielsweise während der Prinz durch den Wald wandert, ein paar Töne auf der Flöte spielen oder auf dem Xylophon anschlagen. Das kleine afrikanische Zupfinstrument Kalimba, das man auf Straßenfesten oder in Afrikaläden kaufen kann, ist auch für Nichtmusiker ganz einfach zu spielen und klingt immer schön.

Während des Vorlesens bewegt der zweite Erwachsene die Figuren vorsichtig durch die Kulissen und stellt sie in die Umgebung hinein, von der gerade die Rede ist.

Warum sind Kinder von Märchen und Märchenaufführungen so gefesselt?

Kinder sind fähig, komplett in die Bildwelt der Erzählung einzutauchen. Was sie hören und, im Falle einer Aufführung, auch sehen, zieht sie in den Bann. Besonders beeindruckt aber sind sie von der Tatsache, dass es einen oder zwei Erwachsene gibt, die sich eine besondere Mühe für sie machen. Die Wertschätzung, die sie dadurch erfahren, ist für sie von großer Bedeutung, vor allem, wenn sie merken, dass derjenige auch Freude an seinem Vortrag hat.

Immer mehr Eltern stellen sich unter großen Druck und fürchten sogar die Geburtstagsfeier ihres Kindes, weil sie das Gefühl haben, etwas ganz Besonders bieten zu müssen, nach dem Motto „höher, schneller, weiter“. Kinder brauchen etwas ganz anderes: Sie schätzen die direkte Hinwendung der Eltern, Geschwister und Freunde. Echte Blumen, echte Kerzen, ein selbstgebackener Kuchen ein selbst gesungenes Lied und kleine Spiele. Das ist für Kindergartenkinder mehr wert als viel Action.

Dass Kinder direkte Zuwendung in dem Maß nicht mehr gewohnt sind und davon sogar in Erstaunen versetzt werden, berichten Märchenerzählerinnen: „Es gibt Kinder, die während einer Märchenvorlesung ausschließlich mich ansehen und hinterher fragen ‚Warum machst du das alles so schön für mich?’ ‚Weil du es wert bist!’ lautet dann meine Antwort.“

 

Märchen spielen

Kindern merkt man nach einer Märchenerzählung an: Sie wollen nun selbst aktiv werden und brennen darauf, etwas zu erschaffen. Karim düst nach der Erzählung sofort los und schnappt sich ein Blatt Paper und Buntstifte. „Ich male den hohen Turm, in dem Rapunzel lebt!“ ruft er aus. Mina flicht ihrer Freundin einen Zopf. „So schön wie Rapunzel!“, sagt sie. Leon und Sarah spielen mit den Holzfiguren und denken sich dabei eine wilde Geschichte aus: Räuber, eine Prinzessin, ein Drache kommen darin vor. Kinder spielen Märchen nicht eins zu eins nach, doch kann man häufig nach dem Vorlesen feststellen, dass sie die Bilderwelt verinnerlicht haben. Manche Kinder malen eine Szene aus der Geschichte, andere spielen Vorkommnisse aus dem Märchen mit Holzfiguren nach, andere erfinden eine neue Geschichte.  Manchen Kindern merkt man zunächst gar nichts an, doch irgendwann erinnern sie sich in ganz anderem Zusammenhang vielleicht an ein Detail und erzählen davon. So verschieden Kinder sind, so verschieden ist die Wirkung von Märchen auf sie. Nur eins gilt für alle Kinder: Märchen hinterlassen einen tiefen Eindruck in ihrer Seele.

 

Möchten Sie mehr über die Wirkung von Märchen auf Kinder erfahren, klicken Sie bitte auf die Links zu folgenden Interviews:

Brigitte Schieder: Kinder brauchen Märchen

Susanne Stöcklin-Meier:  Werte mit Märchen entdecken

Alle im Artikel abgebildeten Märchenfiguren sind im Spiel und Zukunft-Shop erhältlich

 
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