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Nicht zu hart & nicht zu weich - die stimmige Mitte

Lange Zeit achteten Erwachsene sehr darauf, dass es Kindern bloß nicht zu gut geht. Grenzen, Strafen und ein häufig künstlich erzeugter Mangel an Freude sollte die Kinder darauf vorbereiten, dass das Leben hart ist und einem nichts geschenkt wird. Wer Gutes will, muss sich das verdienen.

Diese Haltung gegenüber Kindern und dem Leben stammt u.a. aus den schweren Zeiten des dritten Reiches und sollte Menschen abhärten. Gefühle und Bedürfnisse sollten weder gespürt noch ausgedrückt werden. Die Nachwehen dieser Prägung sind noch heute zu spüren. Die Atmosphäre der Sätze ist oft hart und kühl, wenn ein Erwachsener davor warnt, Kinder zu verhätscheln. Die Menschen, die davor warnen, haben vermutlich nichts Böses im Sinn. Aus ihrer Perspektive tun sie Kindern Gutes, wenn sie ihnen für allzu großes „Getöse und Gewese“ um Gefühle und Bedürfnisse keinen Raum zugestehen. Da soll ein zweijähriges Mädchen aufgrund eines Sturzes doch bitte nicht weinen, das war doch nicht schlimm. Und das Nein zum Eis soll klaglos akzeptiert werden. Für Gefühlsausbrüche gibt es viele abwertende Begriffe „Theater“, „auf der Nase tanzen“, „tyrannisieren“. Diese werden von den Erwachsenen in der Regel ignoriert, das Kind wird häufig isoliert und mit den überfordernden Emotionen allein gelassen.

Und auch die Gegenbewegung hat sich über das Ziel hinausbewegt und der Hyperfokus darauf, was ein Kind jetzt gerade will oder braucht ist für Eltern schlicht nicht leistbar und für Kinder ebenfalls nicht entwicklungsförderlich. Wenn jedes Frusterleben abgefedert oder verhindert wird, fehlt den Kindern die wichtige Erfahrung, dass sie Frust erstens aushalten und zweitens als Motor für ihre Entwicklung nutzen können. Wenn zusätzlich Konflikte vermieden werden, erfahren Kinder wenig über die Bedürfnisse anderer Menschen und nichts darüber, wie man Konflikte konstruktiv löst.


Kindern müssen weder extra Steine in den Weg gelegt noch müssen ihnen alle Steine aus dem Weg geräumt werden. Es ist für sie gleichermaßen ungünstig, ihnen alle Herausforderungen abzunehmen wie sie damit alleine zu lassen. Im Grunde geht es darum, bewusst das familiäre Leben zu gestalten und mit den alltäglichen Herausforderungen und Konflikten angemessen umzugehen. Sie müssen nicht vermieden und auch nicht extra heraufbeschworen werden. Machtkämpfe sollten weder von den Eltern initiiert noch umgangen werden, wenn das Kind gerade z.B. herausfinden möchte, ob diese oder jene Regel auch wirklich immer gilt.

Konkrete Beispiele können helfen, ein Gefühl für eine stimmige Mitte zu entwickeln:

Carla (2 Jahre) fällt auf dem Kiesweg der Länge nach auf den Boden. Sie bleibt kurz liegen und spürt nach: tut was weh? Nein, aber erschrocken bin ich. Sie dreht sich zu ihrer Mama Mira um, die Carla im Blick hat. Mira beobachtet Carlas Ausdruck und stimmt ihr Handeln darauf ab. (Mira rennt nicht panisch hin, sie schimpft nicht, sie lacht nicht, sie bleibt nicht desinteressiert sitzen). Sie geht hin, reicht ihr die Hand, hilft ihr auf und sagt „Du bist gestolpert und hingefallen. Es hat dir nicht weh getan und du bist doll erschrocken“. Carla nickt und saust weiter. Mira macht Carlas Erfahrung nicht größer oder kleiner als sie ist und sie weiß, dass sowas einfach mal passiert (d.h. sie sucht nicht die Schuld bei sich oder Carla „Du warst zu schnell“ oder „Du hast nicht aufgepasst“).


Johann (6 Jahre) möchte morgens nicht zur Schule. Jule muss selbst als Lehrerin pünktlich in ihrer Schule sein. Sie nimmt Johann auf den Schoß und sagt „Erzähl mal, was hält dich davon ab?“. Sie weiß, dass immer ein guter Grund hinter Johanns Verhalten steckt und dass der kürzeste Weg die  Situation zu lösen ist, sich ihr zu stellen. Johann hat auf diese Weise schon oft die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, sich mitzuteilen. Sie finden gemeinsam heraus, dass sich Johann Sorgen um einen Test macht, und Jule beantwortet seine Befürchtungen. Beide kommen pünktlich los.


Julian stellt in den Ferien fest, dass er vergessen hat ein Buch abzugeben. Er macht sich deswegen viele Gedanken. Er traut sich irgendwie nicht, es persönlich abzugeben, weil er ein wenig Angst vor der Reaktion der Lehrerin hat. Er vertraut sich seinen Eltern an. Es ist völlig klar, dass Julian die Verantwortung dafür trägt, dass das Buch zurückgegeben wird. Sie überlegen gemeinsam, welche Möglichkeiten er hat. Er entscheidet sich dafür, das Buch mit einem Brief noch während der Ferien in den Briefkasten der Schule zu werfen. Irgendwann wird er sich trauen, den nächsten Schritt zu gehen und vergleichbare Situationen persönlich zu lösen.


Samuel (3,5 Jahre) geht mit seinem Papa raus. Sam ist rotbackig aufgeheizt vom Vorlesen vor dem Kamin. Draußen ist es windig und frisch. Das weiß er nicht, und weil ihm jetzt so warm ist, will er partout keine Jacke anziehen. Sein Vater Pascal bleibt völlig gelassen. Er zieht sich an und packt Sams Jacke, Mütze und Handschuhe in den Rucksack. Er hat aus vergleichbaren Situationen gelernt und hat inzwischen ausreichend Vertrauen und Weitsicht, um zu wissen, dass Sam, sobald er draußen ist, spürt wie kalt es ist und absolut stressfrei Jacke und Co anziehen wird.


Es geht nicht um die Kämpfe „Verhätscheln oder nicht“, „Schule oder nicht Schule“, „Jacke oder nicht Jacke“, die so viele Familien täglich kämpfen. Verständnis, Perspektivenwechsel und Einfühlungsvermögen können so viele kräftezehrende, unnötige Konflikte in Luft auflösen. Wenn die Erwachsenen eindeutig erwachsen agieren und entwicklungsförderlich mit herausfordernden Situationen umgehen, gibt es keine Verlierer, sondern nur Gewinner. Und entspanntere Familien.

 

Hanna Articus

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