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Gabriele Pohl: Kinder brauchen Seelenräume

"Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen Raum zur Entfaltung des freien Spiels geben. Sie brauchen Eltern mit liebevollem Interesse und Verständnis für die Bedeutung des Spiels. Und sie brauchen mutige Mütter und Väter, die ihr Kind seine Welt erobern lassen - durch Ausprobieren, Angst überwinden, Grenzen erleben.

Die Zukunft wird entscheidend davon abhängen, in welchem Maße wir den Kindern ermöglichen, kreative, selbstbewusste, sozialkompetente Erwachsenen zu werden", sagt die Kindertherapeutin Gabriele Pohl.

Gabriele Pohl (Jahrgang 1952), Mutter von fünf Kindern und Großmutter von acht Enkeln, ist Kinder-, Familien- und Paartherapeutin. Die Diplompädagogin gründete im Jahr 2001 das Kaspar Hauser Institut für heilende Pädagogik, Kunst und Psychotherapie in Mannheim (www.kasparhauserinstitut.de)

"Kindheit – aufs Spiel gesetzt" lautet der Titel Ihres Buches, das bereits in dritter Auflage erschienen ist. Deckt sich der Buchtitel mit Ihren und den Erfahrungen weiterer Fachleute auf diesem Gebiet?

Ja, leider. Die Kindheit ist in Gefahr zu verkümmern. Denn oft bleibt kein Raum mehr für ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Stattdessen Disco für Kindergartenkinder, intellektuelle Lernprogramme für Kleinkinder, verplante Zeit schon im Krabbelalter. Andererseits werden Kinder immer weniger in die Arbeitswelt der Erwachsenen integriert. Sie haben keine Ahnung, was ihre Eltern eigentlich den ganzen Tag tun. Und wenn sie Erwachsene dann nur noch in der Freizeit erleben können, fehlt ihnen ein großer Teil dessen, was sie an sinnvoller Lebensgestaltung erleben sollten. ext der ersten Spalte

 

In den letzten Jahren schießen alle möglichen Frühförderprogramme schon für Kleinkinder wie Pilze aus dem Boden. Zum Glück melden sich immer mehr Kindertherapeuten, Entwicklungspsychologen und Hirnforscher zu Wort, die diesen Trend kritisieren. Lässt dies hoffen, dass unsere Gesellschaft endlich zur Besinnung kommt?

Ich fürchte nein. Aufgeschreckt durch die Pisa-Studie bieten immer mehr Kindergärten Förderprogramme an – sogar schon für die Kleinsten. Ein krasses Beispiel für den übertriebenen Förderwahn: In Deutschland lernen weit über 20.000 Babys ab drei Monaten "Early English" in entsprechenden Sprachschulen. Diese Kurse sind schon lange im Voraus ausgebucht. Wenn man dabei noch die Lehrmethode in Betracht zieht, erscheint der Frühförderwahn besonders abstrus. Den Kleinen werden jeweils drei Sekunden lang bunte Bildchen vors Gesicht gehalten und die englische Bedeutung dafür genannt.

Mit einer solchen Reizüberflutung sind Kinder völlig überfordert. Sie sollten vor allem in den ersten Lebensjahren aus eigenem Antrieb spielen und entdecken - ungestört von Erwachsenen, die ständig korrigieren und verbessern. Untersuchungen von Neurobiologen haben nämlich gezeigt, dass Kinder bald die Lust an ihrem Spiel verlieren und weniger kreativ sind, wenn Eltern ständig eingreifen.

 


Worauf kommt es Ihrer Meinung nach an?

In den ersten Lebensjahren brauchen Kinder keine gleichaltrigen Spielkameraden. Das ist für die Kleinen viel zu stressig. Denn sie müssen ja zunächst einmal sich selbst finden und ihr eigenes Ich entdecken. Mit etwa drei Jahren, also mit Beginn des Kindergartenalters, ist ein Kind bereit, sich auch anderen zuzuwenden. In den ersten Lebensjahren kommt es auf die Förderung von Basiskompetenzen an. Denn nur auf diesem Fundament kann später mal intellektuelle Bildung stattfinden. Kinder müssen sich also erst eine körperliche, emotionale, soziale und geistige Grundausstattung aneignen, um für Kindergarten und Schule gerüstet zu sein. Das heißt: Das Kind muss sich in seiner Umwelt zu einem sozialen Wesen entwickeln. Es soll zum Mitmenschen werden, der fähig ist, den anderen als ein individuelles Wesen zu sehen, der die Grenzen des anderen akzeptiert, der Mitleid empfinden und seine Kraft in den Dienst anderer stellen kann. Andererseits soll sich das Kind aber auch zu einem individuellen Wesen entwickeln, zu einem Menschen, der seinen roten Faden im Leben erkennen lernt, seine eigenen Fähigkeiten einschätzen und weiter entwickeln kann, aber auch seine Beschränkungen kennt und akzeptiert.

Wie lernt ein Kind das alles?

Einerseits hat es eine gewisse genetische Disposition. Es kommt mit bestimmten Anlagen und Fähigkeiten zur Welt. Andererseits wird es in eine bestimmte Familie hinein geboren – und damit in eine bestimmte Situation, die ihm Entwicklung ermöglichen oder auch erschweren kann. Es lernt durch seine Auseinandersetzung mit der Welt: zuerst in der unmittelbaren Umgebung der Familie, dann dort, wo es in einen immer größer werdenden Radius hineingestellt ist – Kindergarten, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Freunde. Am meisten lernt das Kind in der frühsten Epoche seines Lebens. Da ist es am empfänglichsten für Eindrücke. In den wichtigsten ersten drei Jahren ist das Kind noch verbunden mit seiner Umwelt, vor allem mit der Mutter - beziehungsweise mit der Person, die es vorrangig betreut. Es hat noch keine Ich-Grenzen. Ich und Welt sind eines. Erst wenn das Kind zu sich „Ich“ sagen lernt, etwa ab 18 Monaten, beginnt es sich deutlich aus der Einheit mit der vertrauten Person zu lösen und erlebt sich als von ihr getrennt. Ausdruck findet dies in der so genannten Trotzphase. In diesem Alter gehen viele Kinder die ersten Schritte in die Selbständigkeit.

Warum sind die ersten Lebensjahre so wichtig?

Die sozialen und emotionalen Persönlichkeitsmerkmale eines Kindes werden bereits durch entsprechende frühkindliche Erfahrungen geprägt. Erlebt das Kind in seiner frühen Kindheit keine ausreichende Geborgenheit, besteht die Gefahr, dass es im späteren Alter hyperaktiv, ängstlich, unausgeglichen und wenig bindungsfähig wird. Dies geht auch zu Lasten seiner Spielfähigkeit.

 

Was braucht ein Kind in den ersten Jahren besonders?

Es braucht stabile Beziehungen und Zeit, sich zu entfalten. Und es braucht seelische Räume, die Schutz und Halt geben. Das heißt: Gewisse Grenzen, Struktur und Rhythmus sowie Familienrituale. Solche Seelenräume sind zugleich Räume der Entfaltung, in denen Mutter und Vater Wärme, Zuwendung, Anteilnahme und Spielraum geben. Kinder brauchen in ihrer jeweiligen Entwicklungsphase sowohl Nähe als auch Distanz. Dazu gehört, sich liebevoll um das Kind zu kümmern, mit ihm zu lachen und zu sprechen. Aber auch das Zurücknehmen der Eltern gehört dazu. Mutter und Vater sollten ihr Kleinkind nicht ständig bei seinen Erkundungen unterbrechen – aus Sorge, dass etwas kaputtgeht oder das Kind sich verletzen könnte. Sie sollten es auch nicht ständig zu Dingen ermuntern, die es noch nicht kann. Wenn Eltern ihr Kind zum Beispiel zum Stehen hochziehen, obwohl es von sich aus noch keine Anstalten macht, ist das für seine Entwicklung genauso wenig förderlich, als würde es ständig im Laufstall sitzen. Ein Kind braucht Eltern, die ihm Zeit für seine individuelle Entwicklung geben, die es mit der nötigen Geduld und Ruhe begleiten. Und es braucht eine Umgebung, in der es ungestört seine eigenen Erfahrungen machen darf.

Wie spielen Kleinkinder eigentlich, und was lernen sie dabei?

In den ersten Jahren ahmt ein Kind seine Eltern nach. Es ist permanent tätig, oft ohne erkennbaren Zweck und unermüdlich wiederholend. Das Kind ist erfüllt von Tatendrang. Was es in seiner Umwelt wahrnimmt, setzt es schöpferisch um – ganz ohne Gedanken daran, ob es nützlich ist. Es empfindet eine Befriedigung in der Tätigkeit an sich. In den ersten drei Lebensjahren ist das Kind vor allem ein handelndes Wesen und dabei ständig in Bewegung. Es erkundet das Verhältnis seines Körpers in Bezug zum Raum. Das verhilft ihm zu räumlichem Sehen. Das Erproben des Gleichgewichtes durch Ausbalancieren bei den ersten Schritten, Laufen und Hüpfen sind die Grundlage fürs seelische Gleichgewicht. Ein Kind, das unermüdlich übt, sich an einem Möbelstück hochzuziehen und stehen zu bleiben, ohne sich festzuhalten, entwickelt einen enormen Willen, dies zu schaffen. Wer seinem Kind genügend Raum und Zeit gibt, neue Fertigkeiten nach seinem eigenen Entwicklungstempo einzuüben, legt den Grundstein dafür, dass aus ihm ein tatkräftiger Erwachsener wird.

 

Kleinkinder erleben bei ihren Erkundungen häufig auch Frustrationen und Enttäuschungen. Ist das für ihre Entwicklung wichtig?

Ja, denn die Tatsache, dass es wiederholter Bemühungen bedarf, die oft genug fehlschlagen, bis sich der Erfolg einstellt, lehrt die Kinder Ausdauer. Aber auch Zutrauen darauf, dass es sich lohnt, Energie für eine Sache einzusetzen. Wenn Eltern allerdings ständig eingreifen, wird ein Kind nur mangelhaft Zutrauen zu seinen eigenen Fähigkeiten entwickeln können.

Hat es beim Spielen gelernt, durchzuhalten, bis ihm die selbst gesetzte Aufgabe gelungen ist, wird es auch später bei schwierigen Aufgaben in der Lage sein, die nötige Ausdauer und Frustrationstoleranz aufzubringen, bis es zu Lösungen kommt.

 

Nicht alles, was die Sinne anregt, tut Kindern immer gut. Was fördert ihre Entwicklung – und was eher nicht?

Wir müssen unterscheiden zwischen den Anregungen, die sich Kinder selber suchen, und den Eindrücken, denen sie passiv ausgesetzt sind. Und es gilt weiter zu unterscheiden zwischen den Eindrücken, die hauptsächlich auf das Auge und das Ohr einwirken, und den Eindrücken auf die anderen Sinne, die eher vernachlässigt werden. Der Entdeckungshunger, der die Kinder leitet, wenn sie beginnen, die ganze Wohnung zu erobern, regt sie in vielen Sinnesbereichen an: zum Beispiel Schränke auszuräumen, Blumenerde aus den Töpfen pulen, auf Stühle klettern, Dinge durchs Zimmer transportieren, dem Klang lauschen, wenn die Topfdeckel auf die Erde fallen, zuschauen, wie der Zucker aus der Dose auf den Boden rieselt, Kuchen kneten, das Badezimmer unter Wasser setzen. Die Kleinen brauchen Zeit und Muße für ihre Entdeckungen und Erfahrungen. Wichtig sind Abläufe, die klar sind. Ein Beispiel: Das Kind holt mit der Mutter Möhren aus dem Garten. Sie werden geputzt, gewaschen, geschnippelt und gekocht. Das Kind erkennt so den Zusammenhang. In der Erde wächst etwas, das wir zum Leben brauchen. Mutter und Vater sollten bei ihren Tätigkeiten in Haus, Garten oder in der Werkstatt immer innerlich und mit Freude beteiligt sein. Dies spornt ein Kind zum Nachahmen an. Und es versteht dann die Abläufe einer Arbeit viel besser. Wichtig ist auch der Kontakt zur Natur – täglich und bei jedem Wetter. Ich selber habe mit meinen Kindern jeden Tag den gleichen Spaziergang gemacht. Sie konnten dabei wahrnehmen, wie sich ihr Lieblingsbaum im Laufe des Jahres verändert, welche Blumen dort blühen, welche Früchte die Bäume tragen, wie verschieden die Blätter aussehen, welche Tiere es dort gibt. Es gab immer wieder Neues zu entdecken, und nie war es uns langweilig. Kinder brauchen also nicht ständig Abwechslung, sondern einen gewissen Schonraum, damit sie ihre Fantasie und Kreativität entfalten können. Werden sie aber einer permanenten akustischen Berieselung ausgesetzt, zum Beispiel durchs ständig plärrende Radio oder durchs Fernsehen, oder müssen sie schon im Kinderwagen die Eltern in die Stadt zum Einkaufen begleiten, sind die hilflos Eindrücken ausgesetzt, sie wie weder ausblenden noch aktiv beeinflussen können. Das verursacht Stress. Wenn es sich den Sinneseindruck aber zu eigen macht, also bewusst lauscht, schmeckt und ertastet, indem es handelt, wird er für das Kind handhabbar und kann integriert werden. Es muss die Welt für sich erfahrbar machen. Und das kann es nur im aktiven Tun – konzentriert bei der Sache und gleichzeitig ganz bei sich.


Frau Pohl, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für unsere Redaktion.

 

Buchtipp

Gabriele Pohl: Kindheit – aufs Spiel gesetzt. Vom Wert des Spielens für die Entwicklung des Kindes. Mit einem Beitrag von Dr. Armin Krenz

Die Diplompädagogin und Kindertherapeutin hält ein Plädoyer für das freie, fantasievolle und kreative Spiel des Kindes. Denn dies ist die Voraussetzung für die Ausbildung kognitiver, sprachlicher, sozialer und motorischer Selbstbildungsprozesse. Sie erläutert, wie das Kind im Spiel seine Welt gestaltet und lernt, Konflikte zu bewältigen.

185 Seiten, Dohrmann-Verlag, Berlin, 15,80 Euro

Verschiedenste Spielsachen, vom Plüschtier bis zu den Power Rangers, werden nach ihrer Bedeutung für Kinder befragt. Gebriele Pohl geht auf die unterschiedlichen Spielformen und –funktionen ein und gibt für verschiedene Altersstufen Empfehlungen für anregungsreiches Spielzeug. Die Autorin schöpft dabei aus umfangreichen pädagogischen Erfahrungen als Lehrerin und Therapeutin.

 
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