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Mit Freude lernen

Ein Gespräch mit Dr. Nils Altner


„Die Fähigkeit der Gegenwärtigkeit ist ein Geschenk aus der Kinderzeit, das wir uns bis ins hohe Erwachsenenalter erhalten können. Wer seine Aufmerksamkeit und Sinne auf das Hier und Jetzt richtet, wird vom Zauber des Augenblicks so erfüllt, dass Langeweile oder schlechte Laune keine Chance haben. Die Fähigkeit, im Augenblick zu leben, birgt den Schlüssel zum Glück und ist die Basis für lebenslanges freudvolles Lernen und schöpferisches Tun“
, sagt der Pädagoge und Autor Dr. Nils Altner.

 

Dr. Nils Altner, Jahrgang 1968, ist Mitarbeiter am Lehrstuhl und der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an der Universität Duisburg-Essen/Kliniken Essen-Mitte.

Der Vater zweier Kinder lehrt zu den Themen Selbstfürsorge und Persönlichkeitsentwicklung sowie Lernen und Gesundheit an deutschen Hochschulen und an der Harvard University.

Als Dozent am Institut für Achtsamkeit bildet er Kursleiter(innen) in „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ aus. Nils Altner ist Autor beziehungsweise Herausgeber der Bücher „Achtsamkeit im Kindergarten“, „Achtsam mit Kindern leben“, „Achtsamkeit und Gesundheit. Auf dem Weg zu einer achtsamen Pädagogik“ sowie mit Reinhard Brunner „Qigong in der Schule“.

Was brauchen Kinder ganz besonders, um glücklich aufzuwachsen?

Sie möchten vor allem von uns gesehen werden. Das Leuchten in unseren Augen nährt ihre Seele. Sie erhalten dadurch die Bestätigung: „Ja, ich hab dich lieb. Ich bin glücklich, dass du lebst, und ich freue mich über dieses Wunder.“ Wenn diese Botschaft das Leben unserer Kinder von Anfang an begleitet, dann stehen die Chancen gut, dass sie später weder von nagenden Selbstzweifeln noch von zwanghaftem Ehrgeiz gepeinigt werden. Kinder brauchen lebendige Beziehungen in der Familie, im Kindergarten und in der Schule. Wenn wir nicht wirklich präsent für sie sind, leiden sie Mangel und sind sich ihrer selbst unsicher. Die große Frage, die dann ihr Leben bestimmt, lautet: „Was muss ich tun, damit Vater, Mutter oder Lehrer(in) mich wirklich sehen?“ Wenn das Kind eine Antwort darauf findet, wird dieses Tun für sein Leben über die Maßen wichtig, und es wird sich fortan darüber definieren. Findet es keine Antwort, dann wird es sich wertlos fühlen und immer wieder abgrundtief traurig sein. Wie wir als Erwachsene uns auf das Kind beziehen und uns ihm gegenüber verhalten, welche Botschaften wir ihm über sich selbst, über uns und die Welt vermitteln, trägt entscheidend dazu bei, wie es sich in diesem Moment und in der Zukunft erlebt und verhält.

 

Wie lernen Kinder?

Kinder begreifen die Welt mit ihren Händen. Sie riechen, schmecken, hören und sehen mit wachen Sinnen. Und sie erleben sich im Bezug zu den Dingen der Welt, möchten spüren, wie es sich anfühlt, im Gras zu liegen oder auf einem Baumstamm. Unsere Sinne sind die Tore, durch die die Welt Eingang in unser Erleben findet. Vorstellungskraft und Denken lassen sich in diesem Zusammenhang ebenfalls als ein Sinn verstehen.

Aber unsere Welt hat sich verändert. Es gibt kaum noch natürliche Freiräume, in denen Kinder sich entfalten können. Mit welchen Folgen?

Die Verarmung und Verkümmerung der Natur bedeutet nicht nur eine Zunahme von Problemen der Um- oder besser Mitwelt, sondern auch unserer Innenwelt. Haltungs- und Bewegungsschäden, Essstörungen und Übergewicht, Allergien, psychische Beschwerden und soziale Auffälligkeiten sind nichts anderes als Anzeichen für aus der Bahn geratene natürliche Prozesse in uns. Es liegt daher in unserer Verantwortung und Pflicht, naturnahe Spiel-, Lern- und Lebensräume für unsere Kinder und uns selbst zu erhalten und zu schaffen. Dazu gehört aber auch regelmäßiges Innehalten und Entschleunigen. Kleine Kinder verfügen von Natur aus über diese Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu verweilen. Das können wir täglich beobachten, wenn wir wollen, und wir können uns davon berühren, bezaubern und inspirieren lassen.

 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja, der knapp zwei Jahre alte Linus zum Beispiel sitzt am Fenster zum Garten. Der Wind weht, und die Sonne scheint durch die winterlich kahlen Äste der alten Kastanie vorm Haus ins Zimmer. Linus betrachtet das Spiel von Licht und Schatten auf der weißen Wand neben dem Fenster. Die dunklen Formen auf dem weißen Grund scheinen zu leben. Linus sitzt und schaut und ist ganz in das Auf und Ab der Schemen vertieft. Mal bewegen sie sich rhythmisch hin und her. Dann folgt eine Pause, bis die Schatten mit einer heftigen Bewegung wieder zu tanzen beginnen. Linus sitzt und schaut und ist zutiefst präsent und glücklich. Irgendwann hat er genug und greift zum Spielzeugtraktor.

Was können Eltern, die solche Situationen bei ihren Kindern beobachten, daraus lernen?

Sie können sich berühren und ergreifen lassen. Es gibt fast keine Arbeit, die dann nicht ein paar Minuten ruhen könnte. Kinder scheinen in diesen Momenten der stillen Gegenwärtigkeit von einem ganz besonderen Zauber umgeben zu sein. Wenn Eltern sich dazu gesellen, entstehen besonders kostbare Erlebnisse des gemeinsamen Seins mit dem Kind. Jon Kabat-Zinn, der seit den 1970-er Jahren an der University of Massachusetts Achtsamkeitsmeditation in die Schulmedizin eingeführt hat, beschreibt die Qualität solcher kostbaren Momente im Hier und Jetzt als „Seins-Modus“. Der gewohnte „Aktions-Modus“ ist bestimmt von Effektivität und Zweckmäßigkeit. Dabei geht es immer darum, möglichst schnell mit geringstem Aufwand das Höchstmaß eines angestrebten Ziels zu erreichen.

 

Viele von uns haben aber verlernt, im Seins-Modus zu leben. Wir fühlen uns getrieben, als seien wir auf der Flucht. Kinder haben die Macht, uns aus dieser Not zu befreien. Wenn wir empfänglich für die Präsenz unserer Kinder sind, wenn wir uns mitfühlend auf sie einschwingen können, dann finden wir in der Gegenwart erneut Zugang zur einfach nur schauenden Daseinsform. Und in dem sich dann auftuenden Raum der Gegenwärtigkeit ändert sich plötzlich die Perspektive, aus der unsere erwachsenen Augen und Herzen die Welt und uns selbst wahrnehmen. Was eben noch drängend wichtig schien und einen Großteil unserer Kraft, Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, tritt dann vielleicht in seiner Wichtigkeit, wenn auch nur für einen Moment, zurück und gibt den Blick frei auf das Eigentliche.

Viele Kinder verlieren im Laufe ihrer Schulzeit das Interesse am Lernen. Woran liegt das?

Interesse an der Welt zu wecken und zu fördern, gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Lehrern und Eltern. Doch besonders in Deutschland ist oft genug das Gegenteil der Fall. Da werden Kinder jahrelang mit Themen konfrontiert, die zu ihrem eigenen Leben und ihren Interessen keine Verbindung haben. Sprachlich rationale und logisch mathematische Fähigkeiten stehen an erster Stelle.

Musikalisch-rhythmische, bildlich-räumliche, auf Körpergefühl und Bewegung bezogene oder auch emotionale und zwischenmenschliche Fähigkeiten bleiben zunehmend auf der Strecke. Die im 45-Minutentakt mit Klingelzeichen unterbrochene Vermittlung von Lerninhalten, Pauken nach Lehrplänen ohne Bezug zur Neugier und den Interessen und Fähigkeiten der Kinder verhindern selbstbestimmtes Lernen. Die Erfahrungen während der Schulzeit haben bei vielen Erwachsenen ihr natürliches Interesse an der Welt und aneinander begraben und die Freude am Lernen verschüttet.

 

Gibt es Schulen, die da ganz andere Wege gehen?

Ja, zum Glück. Die Bielefelder Laborschule etwa oder die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. In diesen Schulen werden nachdrücklich andere Formen des Lernens praktiziert und Selbständigkeit unterstützt. Außerdem gibt es Freiräume für offenes Lernen, die den Kindern Gelegenheit, Anregungen und Zeit für handwerkliches und gestaltendes Arbeiten bieten. Dies alles trifft auch in besonderer Weise auf Waldorf-Schulen, Montessori-Schulen und andere „freie“ Schulen zu. In solchen lernfreundlichen Schulen lernen die Kinder nicht nach rigiden Lehrplänen, die ihre individuellen Begabungen und Bedürfnisse nicht respektieren können, sondern vor allem in altersübergreifenden und individualisierten Lernprojekten.

Wie funktioniert Lernen am besten?

Lernen funktioniert am besten, wenn Kinder interessiert, begeistert, aktiv und staunend lebendige Erfahrungen machen. Wir speichern nämlich nur die Informationen im Gedächtnis, die wir als relevant für uns einstufen. Je komplexer die Anknüpfungen des Neuen an bereits in unserem Gedächtnis vorhandene Informationen sind, desto besser prägen wir sie uns ein und erinnern uns auch später daran. Ein Vergleich zwischen herkömmlichem Vokabellernen und szenischem Lernen in gespielten Situationen ergab: Schülerinnen und Schüler einer siebten, achten und neunten Klasse behielten mit der szenischen Methode etwa doppelt so viele neue Wörter im Gedächtnis. Überhaupt ist Theaterspielen eine wunderbare Schule. Keinem Kind sollten die Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Theaterspielens vorenthalten werden. Verkörperung, Einfühlung und Ausdrucksfähigkeit, Erinnerungsvermögen und Teamgeist werden dabei geschult. Erlebte und dadurch bedeutsame Beziehungen zu literarischen Texten und ihren Autoren eröffnen sich. Historische Ereignisse und Fremdsprachen werden lebendig. Auch das Erlernen handwerklicher und technischer Fähigkeiten kann mit Theaterprojekten verbunden werden. Und der Lernerfolg gipfelt in einer Aufführung und in der öffentlichen Anerkennung der gemeinsam vollbrachten Leistung.

 

Was können wir als Erwachsene tun, um die Welt für Kinder lebenswerter zu gestalten?

Es liegt an uns, die Welt der Kinder achtsam so mitzugestalten, dass das Licht ihres natürlichen Gewahrseins strahlen kann und die Welt im Innern und im Äußeren erhellt. Geben wir ihnen Raum für Momente des Verweilens und Staunens! Erhalten und schaffen wir Lebensräume, in denen sie in ihrem eigenen Rhythmus schwingen können! Sorgen wir für Inseln der Entschleunigung mit Raum und Muße für liebevolle Beziehungen und Schönheit! Ermuntern wir die Kinder zu freudvoll entdeckendem und selbstbestimmtem Lernen! Unterhaltung, Werbung, Krach und Geschwindigkeit dürfen dabei auch ihren Platz haben und genossen werden. Wir sollten aber die Fähigkeiten der Kinder stärken, sie immer wieder auch abwählen und abstellen zu können. Wir Erwachsene sind die Verbindung der Kinder zu den Errungenschaften der Kunst, Kultur und Wissenschaft. Wir vermitteln ihnen die Regeln des Zusammenlebens und die Haltung zu sich selbst. Wir leben vor, wie Familie, Partnerschaft und Freundschaft gestaltet werden können. Wir treffen in ihren ersten Lebensjahren alle Konsumentscheidungen und zeigen, wie Menschen ihrer Verantwortung für den Erhalt der Ressourcen gerecht werden. Und wir können sie in philosophische, religiöse und spirituelle Traditionen einführen.

 

Herr Dr. Altner, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für die Redaktion

Weitere Informationen über Dr. Nils Altner und seine Kursangebote finden Sie unter: www.achtsamkeit.com

 

Buchtipp

Nils Altner: Achtsam mit Kindern leben Wie wir uns die Freude am Lernen erhalten

Kein Geringerer als Jon Kabat-Zinn, der große Meister der Achtsamkeitspraxis, schrieb das Vorwort zu diesem Entdeckungsbuch für Eltern, Erzieher und Lehrer. Viel Wertschätzung bringt er dem Autor des Buches Dr. Nils Altner entgegen. Zu Recht. Denn das Buch ist nicht nur für Eltern, sondern auch für Erzieher(innen) und Lehrer(innen) eine wahre Fundgrube voller wertvoller Anregungen zur achtsamen Selbstfürsorge und für die Gestaltung von Lebens- und Lernräumen, in denen Kinder sich wohl fühlen und mit Freude lernen. Mit vielen Impulsen und Achtsamkeitsübungen bietet das Buch eine Fülle von Anregungen zum Innehalten, Meditieren, bewussten Wahrnehmen und Entspannen. Einige davon eignen sich in ganz besonderer Weise zum direkten Einbeziehen in den Unterricht oder in das Spiel mit Kindern. Dem Wunsch von Jon Kabat-Zinn für dieses wertvolle Buch ist nichts hinzuzufügen: „Möge es seinen Weg in die Hände und Herzen all derer finden, denen authentisches Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ein Anliegen ist. Möge es dazu beitragen, dass sie selbst die Freude am Lernen wiederentdecken, denn eine achtsame und herzlichere Erziehung kommt Schülern, Lehrern und Eltern gleichermaßen zugute.“

192 Seiten, Paperback, Kösel Verlag

 
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