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Herbert Renz-Polster: Mehr als Urvertrauen - Was Bindung ist und wie sie das Leben prägt

„Am Bindungssystem liest das Baby ab, ob sein soziales Netz verlässlich ist oder nicht, ob sich die Menschen seiner Umwelt freundlich oder aggressiv begegnen. Und es lernt, wie es mit diesen Menschen umgehen muss, damit es beachtet und versorgt wird. Bindung ist damit auch eine Plattform für soziales Lernen“, sagt der Kinderarzt, Wissenschaftler und Buchautor Dr. Herbert Renz-Polster.

Dr. Herbert Renz-Polster, Jahrgang 1960, ist Kinderarzt, Buchautor und Dozent am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Dort erforscht er seit Jahren intensiv, wie die Entwicklung von Kindern mit Hilfe der Evolutionstheorie besser verstanden werden kann. Er ist Vater von vier Kindern und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Ravensburg.

Dr. Renz-Polster, wie unterscheiden Entwicklungspsychologen und Bindungsforscher die Art der Bindung zwischen Mutter und Kind?

Die Bindungsforschung unterscheidet grob zwischen „sicher“, „unsicher“ und „desorganisiert“ gebundenen Kindern. Um zu messen, in welche dieser Kategorien ein Kind fällt, entwickelte Mary Ainsworth, eine Mitarbeitern des bekannten Bindungsforschers John Bowlby, in den 1950er Jahren den so genannten Fremde-Situation-Test. Dabei begibt sich eine Mutter mit ihrem 12 bis 20 Monate alten Kind in ein unbekanntes Zimmer mit allerlei Spielzeug. Dann kommt eine dem Kind unbekannte, aber freundliche Frau hinzu. Nach drei Minuten verlässt die Mutter den Raum, nach weiteren drei Minuten kehrt sie zurück. Der Wechsel von Trennung und Wiederkommen wiederholt sich insgesamt zweimal. Die Reaktionen des Kindes werden aufgezeichnet und daraus der jeweilige Bindungstyp abgeleitet. Doch ein solcher Test hat Tücken. Je nach Tagesform und Alter reagieren Kinder nämlich sehr unterschiedlich auf die künstliche Umgebung und die Trennung von der Mutter. Eine große Rolle spielt dabei auch das Temperament.

Kein Wunder also, dass der Fremde-Situation-Test selbst bei Bindungsforschern mittlerweile auf einige Skepsis stößt. Immerhin lässt sich so viel sagen: Ganz grob stimmen die im Labor gemessenen Bindungstypen auch mit dem Verhalten der Kinder im echten Leben überein – selbst wenn das Temperament ebenfalls eine große Rolle spielt.

Bindet sich ein Baby immer nur an seine Mutter?

Nein. Das Bindungsprogramm des Babys ist – anders als etwa das der Menschenaffen – nicht auf eine einzige Bindungsperson zugeschnitten. Und das macht evolutionsbiologisch Sinn. Denn im Gegensatz etwa zum Schimpansen ist es für den menschlichen Nachwuchs nicht nur wünschenswert, sondern entscheidend, dass sich neben der Mutter auch noch andere Helfer an der Pflege und Erziehung beteiligen. Die Bindungen zu den verschiedenen Betreuungspersonen können sich aber in ihrer Art und Qualität durchaus unterscheiden. Das heißt aber nicht, dass das Bindungsprogramm des Menschenkindes wahllos wäre. Denn schon nach wenigen Wochen – und umso mehr, wenn es müde, krank oder sonst wie gestresst ist – beginnt das Baby, eine Betreuungsperson zu bevorzugen – meist diejenige, mit der es die meiste Zeit verbringt, in der Regel also die Mutter.

Und was ist mit dem Vater?

Dass auch Männer von Natur aus als „Bindungskandidaten“ vorgesehen sind, zeigt sich schon an ihren körperlichen Reaktionen. Während der Schwangerschaft ihrer Partnerinnen steigt in ihrem Blut der Spiegel des eigentlich für das Stillen notwendigen Hormons Prolaktin deutlich an. Gleichzeitig fällt das „Männlichkeitshormon“ Testosteron ab. Und auch nach der Geburt gilt: Je mehr sich Väter mit ihren Kindern befassen, desto höher steigt der Blutspiegel des Prolaktin an. Und das Testosteron fällt nach der Geburt um satte 30 Prozent ab. Auch die Babys lassen sich vom Geschlecht ihrer Betreuer nicht beirren. Sie bauen ohne weiteres auch zu Männern eine Bindung auf. Wenn es ein Mann ist, der die verlässlichste Pflegeperson in Reichweite abgibt, so „wählen“ sie ihn auch als hauptsächliche Bindungsperson aus.

Wird Bindung durch belastende Lebenssituationen erschwert?

Ja. Viele Studien zeigen: Je unsicherer und belasteter die Lebenssituation der Mutter nach der Geburt des Kindes ist, desto schwerer fällt es ihr, eine sichere Bindung zu ihrem Baby aufzubauen. Der feinfühlige Umgang mit einem Kind – eine wichtige Zutat für Bindung – fällt nämlich nicht vom Himmel. Er hat eine Geschichte und kennt Bedingungen. Jede Muter will feinfühlig sein – aber es fällt ihr deutlich leichter, wenn sie sich nicht gleichzeitig Sorgen über die nächste Ratenzahlung machen muss oder auch darüber, ob ihr Ehemann den Abend lieber woanders verbringt, als mit einem schreienden Baby. Bindung, so scheint es, ist mehr als ein Dialog zwischen zwei eng aufeinander bezogenen Partnern. Sie bezieht vielmehr das ganze soziale System mit ein, in dem die beiden leben. Weitaus mehr als mit fest verankerten mütterlichen Qualitäten hängt Bindung deshalb damit zusammen, wie das Leben der Eltern läuft, wie wohl sie sich in ihrer Haut fühlen, wie viel Unterstützung sie haben und wie gut sie und das Kind zusammenpassen.

Was passiert, wenn Bindung in den ersten Lebensjahren nicht so recht gelungen ist? Müssen Eltern sich da Sorgen über die Zukunft ihres Kindes machen?

Die ersten Jahre sind wichtig, und wenn hier Katastrophen passieren, wie etwa in den rumänischen Waisenhäusern der Ceausescu-Diktatur, so hat das lebenslange Folgen. Aber wenn man von solchen Extremerfahrungen absieht, sind die ersten Jahre nicht die alles entscheidenden Weichensteller, als die sie einmal gesehen wurden. Das alte Bild, nach dem Bindung eine Impfung fürs Leben darstellt oder gar eine Art Kapital, von dem wir unser Leben lang zehren, ist überholt. Bindungserfahrungen wirken weiter, aber ihr Nachhall ist gedämpft, und er bricht sich an jeder neuen Lebensstufe, in jeder neuen Lebenswelt, in die wir eintreten. Jerome Kagan, einer der bedeutendsten Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts, sagt dazu: „Es stimmt, dass das, was in den ersten drei Jahren passiert, sehr wichtig ist. Aber genauso wichtig ist, was in den nächsten drei Jahren passiert. Und so weiter.“ Es ist an der Zeit, den begrenzten Einfluss der ersten Jahre positiv zu sehen - nicht als Zweifel an der Macht der Mutterliebe, sondern als eine Chance auf Heilung. Kinder können sich gut entwickeln – auch wenn es um sie herum nicht immer optimal läuft. Und das ist gut so, denn die Welt ist nicht optimal. Ein Mensch, der als Säugling auf der Intensivstation lag, muss deshalb später nicht beziehungsgeschädigt sein. Ein Mensch, der in der frühen Kindheit Verluste zu erleiden hatte, kann trotzdem einmal ein reiches Leben führen. Nicht wenige unsichere Bindungen haben lebensgeschichtlich dennoch ein Happy end. Die Kinder entwickeln sich dank ihrer seelischen Widerstandsfähigkeit zu sozial erfolgreichen Erwachsenen.

Die erste Zeit mit dem Baby ist immer auch eine Belastung für die jungen Eltern. Setzt der Gedanke daran, die Bindung „gut hinzubekommen“, sie da nicht noch zusätzlich unter Druck?

Ja, leider. Aber Bindung zum Kind gelingt nicht deshalb, weil die Eltern krampfhaft versuchen, alles richtig zu machen. Damit eine sichere Bindung entsteht, müssen auch die Umstände passen. Und die sind zwar nicht unbedingt in unserer Hand, aber sie lassen sich trotzdem beeinflussen, mitgestalten oder bewusst verändern. Wichtig ist die Qualität der Beziehungen, in die ein Kind eingebunden ist. Es überrascht also nicht, dass Kinder von Eltern, die in einer guten Beziehung leben, selbst eher sicher gebunden sind. Umso ironischer, dass das Leben mit einem Baby durchaus eine Belastung für die Beziehung der Eltern sein kann. Da ist auf einmal ein Geschöpf, das alle Kraft und Energie seiner Eltern fordert. Zum anderen entsteht in der jungen Familie oft genug eine Art Beziehungsfalle, in die selbst gut vorbereitete Eltern hinein tappen. Die Mutter ist durchs Stillen natürlich auf ihr Kleines fixiert, und der Vater fühlt sich da vielleicht ausgeschlossen. Während Bindung zum Kind aufgebaut wird, kommt es zu einer „Entbindung“ der Eltern. Man empfindet sich als weniger interessant, als weniger interessiert am Leben des anderen, als weniger zugewandt. Für all das, was früher wichtig war, ist jetzt keine Zeit mehr.

Was können junge Eltern da tun?

Da hilft nur eines: realistisch sein. Das Leben mit einem jungen Säugling ist Extremarbeit, und es ist in der Tat eine Sollbruchstelle für jede auch noch so romantische Beziehung. Paare tun gut daran, sich hier nichts vorzumachen. Die wichtigste Aufgabe: möglichst schon vor der Geburt Reserven aufbauen. Dazu gehört vor allem, klar, deutlich und freundlich miteinander zu reden und sich trotz aller Erschöpfung auf ein Beziehungs-Minimalprogramm zu verständigen. Kein Baby nimmt Schaden, wenn es ein paar Mal in der Woche für zwei oder drei Stunden von einem guten und ihm einigermaßen vertrauten Babysitter übernommen wird. Und wo immer es geht, sollte nicht auch noch zusätzlichem Stress die Türe geöffnet werden. Wenn irgendwann im Leben eine Haushaltshilfe sinnvoll ist, dann jetzt. Junge Familien brauchen darüber hinaus gut funktionierende soziale Netze. Kindern tut es nämlich gut, auch andere Bezugspersonen außer der Mutter zu haben – Großmütter, Tante, Patentante, Onkel, Freunde, Nachbarn. Denn Kinder, die positive Beziehungen zu anderen Erwachsenen außerhalb des Elternhauses unterhalten, haben insgesamt mehr soziale Widerstandskraft.

Ist es normal, wenn manche Mütter länger brauchen, um eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen?

Ja, denn Bindung ist ein Weg. Treffend ist der Vergleich mit einem Seil: Es bildet sich schon vor der Schwangerschaft und wird durch den täglichen Umgang mit dem Baby immer fester geknüpft. Mütter und auch Väter erleben die Bindung an ihr Kind sehr häufig als eine „Geschichte“, als eine Annäherung über Tage, Wochen oder noch länger. Und zu der Geschichte gehören auch Hindernisse, zum Beispiel der permanente Schlafmangel und die damit einhergehende Erschöpfung in der ersten Zeit. Da liegt es auf der Hand, warum sich der gemeinsame Weg von Mutter zu Mutter so unterschiedlich anfühlt. Manche Mütter spüren schon in der Schwangerschaft eine feste, liebevolle Bindung zu ihrem Kind. Für andere Frauen beginnen die Muttergefühle erst in den Wochen nach der Geburt oder bauen sich erst allmählich über das ganze erste Jahr auf.

Tragen die Kleinen auch selber etwas dazu bei, dass sie sich sicher gebunden fühlen können?

Erst allmählich wurde klar, dass gelungene Bindung auch eine Eigenleistung des Kindes ist. Nur wenn es eigenständige Erfahrungen machen kann und sich bei der Erforschung der Umwelt als „tüchtig“ erlebt, kann es sich sicher gebunden fühlen. Bindung ist also keine „Versorgungsleistung“. Sie wird nicht zur Verfügung gestellt, sondern ergibt sich in einem wechselseitigen Prozess, in dem das Kind den Hochseilakt zwischen Geborgenheit und Autonomie erlernen kann. Wie die Bindungsforschung heute zeigt, ist nicht nur Nähe die Voraussetzung für eine gelingende Entwicklung, sondern genauso die Freiheit, bestimmte Dinge selbst zu regeln. Den Drang, auf eigenen Füßen zu stehen, haben Babys schon, bevor sie laufen können. Sie strampeln, spielen mit den Fingern, räkeln sich, lächeln oder krähen manchmal aus keinem anderen Grund als dem, dass sie sich als „wirksam“ erleben. Dass Kinder mit ihrem Autonomiestreben oft nicht so leicht zum Zug kommen, hängt jedoch nicht nur damit zusammen, dass die heutigen Lebensräume nicht unbedingt kindgerecht sind. Es liegt auch daran, dass es vielen Eltern mangels Erfahrung mit kleinen Kindern schwer fällt, abzuschätzen wie gefährlich die Umwelt wirklich ist. Eine „Autonomie in Verbundenheit“ entsteht, wenn ein Kind dort Nähe bekommt, wo es Nähe braucht, und dort Freiraum für eigene Erforschungen, wo es selbst wirksam sein will. Sicherheit entsteht also durch Schutz und durch Eigenständigkeit. Bindung und Selbständigkeit sind keine Gegensatzpaare, sondern zwei Seiten einer Medaille.

Herr Dr. Renz-Polster, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jette Lindholm für die Redaktion

Weitere Informationen über Dr. Herbert Renz-Polster finden Sie unter: www.kinder-verstehen.de

Buchtipp

Herbert Renz-Polster:

Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt

Kinder verhalten sich oft nicht so, wie es ihre Eltern von ihnen erwarten und wünschen: Babys weinen ohne Angabe von Gründen, sie haben wochenlang Koliken, und sie wollen partout nicht im eigenen Bettchen schlafen. Kleinkinder essen kein Gemüse, dafür Süßigkeiten ohne Grenzen, sie schlafen schlecht ein und wachen nachts unregelmäßig auf. Sie bekommen aus heiterem Himmel Wutanfälle und lassen sich beim Sauberwerden endlos Zeit. Es hat sich eingebürgert, all das als ein Defizit der Kinder zu sehen: Sie sind eben noch nicht in der Lage, sich verständlich zu machen. Ihre Blasenfunktion ist noch „unreif“, ihr Gehirn eine Baustelle. Oder sie tragen mit ihrem Verhalten irgendwelche Konflikte aus – mit sich, der Mutter oder ihrem Über-Ich. Oder sie sind einfach „unerzogen“.

Diesem Buch liegt eine andere Sichtweise zugrunde. Statt nach dem zu suchen, was unseren Kindern fehlt, fragt es nach den Vorteilen, die ein bestimmtes Verhalten bietet. Was bringt es dem Kind, so zu sein, wie es ist – und nicht anders? Also: Was hat das Kind davon, kein Gemüse zu essen? Was hat es davon, den Teller nicht leer zu essen? Was hat es vom Trotzen, was von dem Geschrei, wenn es alleine einschlafen soll? Kurz, dieses Buch nimmt an, dass Kinder gute Gründe haben, wenn sie ihre Eltern vor Rätsel stellen. Das gedankliche Werkzeug, mit dem in dem Buch die Kindheit betrachtet wird, ist die Evolutionstheorie. Dieses von Charles Darwin begründete Gedankengebäude geht davon aus, dass die heutigen Lebewesen deshalb so aussehen wie sie aussehen und sich so verhalten wie sie sich verhalten, weil sie mit diesen Eigenschaften in der Vergangenheit Erfolg hatten. Und das gilt auch für unsere Kinder. Dass sie in ihrer Entwicklung auf das den Eltern einschlägig bekannte Repertoire setzen, hat einen einfachen Grund: Es hat ihnen geholfen, besser in der Umwelt zurechtzukommen, in der sie über Hunderttausende von Jahren gelebt haben! Das legt eine radikal andere Sicht der Entwicklung des Kindes nahe: Kindern fehlt es an nichts. Sie mögen unfertige Erwachsene sein – aber sie sind hundertprozentig dafür ausgerüstet, Kinder zu sein. Das Buch zeigt Eltern, wie Kinder ihre Stärken entwickeln und was das für den Erziehungsalltag bedeuten kann – damit sich Eltern und Kinder auch in der heutigen Umwelt wieder „natürlicher“ begegnen können.

512 Seiten, 19,95 Euro, Kösel Verlag, München

 
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