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Kinder und Grenzen

Wer sich mit pädagogischen Inhalten befasst, begegnet immer wieder dem Leitsatz „Kinder brauchen Grenzen“. Dieser Satz ist nicht falsch, trifft aber aus meiner Sicht nicht den Punkt. Diesen Satz bejahen viele Erwachsene und werfen daraufhin großzügig Grenzen in die Kinderwelt und beharren auf deren Einhaltung. Denn sie gehen davon aus, dass es vor allem darum geht, dass Kinder lernen die gesetzten Grenzen einzuhalten. Aus dieser Perspektive macht es natürlich Sinn, so viele Grenzen wie möglich zu setzen. Kinder erkennen das und es beginnt häufig ein Katz und Maus-Spiel und es kommt zu kräftezehrenden Machtkämpfen. Willkürliche und zu viele Grenzen überfordern und zermürben Kinder und es fällt ihnen dann tatsächlich schwer sie einzuhalten. Manchmal beginnen sie dagegen zu rebellieren. Dann haben Erwachsene viele meist (ab)wertende Begriffe zur Hand mit denen sie das kindliche Verhalten einsortieren „auf der Nase tanzen“, „folgt nicht“, „Tyrann“. In den vergangenen Jahrzehnten reagierten sie dann häufig mit Härte und Strenge, was die Beziehung zusätzlich belastete und die Dynamik verstärkte. Das Kinderbild, das davon ausgeht, dass Kinder böswillig sind und mit möglichst viel Härte zu guten Menschen erzogen werden müssen, ist veraltet und viele Eltern suchen nach Alternativen.

 

Was dann? Kinder Grenzen-los aufwachsen lassen? Nein, auf keinen Fall.

Kinder wollen unbedingt mit ihren Bezugspersonen kooperieren. Da sie lange Zeit vollständig abhängig von ihnen sind, müssen sie das sogar. Gleichzeitig wollen und müssen Kinder ihren eigenen Weg gehen und eigene Erfahrungen machen. In diesem Wechselspiel spielen Grenzen eine wichtige Rolle – ihre eigenen Grenzen, die der Umwelt und ihrer Mitmenschen. "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." (Immanuel Kant). Grenzen sind wichtig und sie ergeben sich ganz natürlich im Miteinander. Sie müssen nicht künstlich erschaffen oder gesetzt werden, sie sind einfach da. Grenzen spüren wir dann, wenn wir etwas nicht verändern oder beeinflussen können. Ein paar alltägliche Beispiele:

•      das Wetter ist wie es ist

•      Gefahrensituationen

•      eine Freundin hat heute keine Zeit zum spielen

•      in einer Gemeinschaft muss ich Rücksicht nehmen

•      Mama will jetzt nicht spielen

•      Papa hat kein Geld dabei und kann jetzt keine Brezel beim Bäcker kaufen

•      der Laden hat sonntags geschlossen

•      der Bruder mag den Bagger jetzt nicht ausleihen

•      der Lieblingssaft ist leer

Wenn Kinder Grenzen hinterfragen und testen - was sie tatsächlich tun - tun sie das nicht aus Böswilligkeit, weil sie provozieren wollen oder weil sie noch nicht ausreichend Grenzen erfahren haben. Vielmehr haben sie dabei Fragen im Gepäck:

•      Was bedeutet diese Grenze? Woher kommt sie?

•      Was sagt sie über denjenigen der oder die sie setzt aus?

•      Ist sie echt? Ist sie wirklich unverrückbar?

•      Zeig mir, wie man eine Grenze aufzeigt.

•      Zeig mir, wie man damit umgeht, wenn sich jemand nicht daran hält.

•      Hilf mir mit dieser Grenze umzugehen.

 

Was Kinder unbedingt brauchen und das ist aus meiner Sicht der zentrale Punkt: sie brauchen Unterstützung, einen Übungsraum und Vorbilder um zu lernen wie man mit Grenzen umgeht. Die Einhaltung und Achtung der Grenze im Außen ist das eine. Was aber in einem Kind passiert, wenn es an eine Grenze stößt, ist genauso wichtig. Für die kindliche Entwicklung ist von großer Bedeutung, dass ein Kind lernt mit den dabei entstehenden Empfindungen umzugehen. Es fühlt sich vielleicht allein oder zurückgewiesen, es muss einen Wunsch loslassen oder länger geduldig sein als gedacht. Das löst innere Spannungszustände aus und dies zeigt ein Kind durch seinen Gefühlsausdruck: es ist wütend, es weint oder es sucht Kontakt und Nähe. All das bedeutet nicht, dass es die Grenze nicht einhält. Viele Erwachsene scheinen zu erwarten, dass Kinder eine Grenze oder eine Frustration kommentarlos zur Kenntnis nehmen. Sobald ein Kind seine Gefühle über die Grenze an die es stößt kundtut, reagieren viele Erwachsene heute häufig mit zwei (nicht hilfreichen) Reaktionen: sie werden hart oder sie werden weich.

Wenn sie mit Härte reagieren (wie lange Zeit empfohlen wurde) und z.B. die Grenze noch einmal laut und deutlich vertreten oder das Kind ignorieren, kann das Kind nicht lernen seine Gefühle zu regulieren. Grenzen und die damit verbundenen Gefühle fühlen sich für das Kind ganz furchtbar an. Es wird unter Umständen in Zukunft vermeiden, gar nicht erst an die Grenze zu stoßen und in vorauseilendem Gehorsam versuchen zu erspüren, was andere von ihm erwarten und sich daran halten. Kinder wirken dann unkompliziert und brav, in ihnen sieht es unter Umständen jedoch ganz anders aus. Oder sie reagieren oppositionell und machen auf diese Weise darauf aufmerksam, dass auf der Beziehungsebene etwas unklar und ungut ist.

Als Gegenbewegung zu der lange Zeit propagierten Härte werden Erwachsene heute als Reaktion auf die Gefühlsstürme des Kindes häufig sehr weich. Sie verschieben daraufhin die Grenze und/oder setzen viel in Bewegung, damit das Kind die Frustration nicht spüren muss. Auf diese Weise kann das Kind ebenfalls nicht lernen, seine Gefühle zu regulieren. Es kann so nicht erleben, dass andere Menschen auch Bedürfnisse und Grenzen haben und genauso wichtig sind, wie es selbst. Und es wird ihm die Erfahrung verwehrt, dass es aushalten und annehmen kann, wenn etwas unveränderlich ist.

Was also ist zu tun, wenn ein Kind gefühlvoll auf eine gesetzte Grenze reagiert?

Die Grenze klar benennen, darauf vertrauen dass sie gewahrt wird und für das Kind da sein und mit ihm die aufkommenden Gefühle da sein lassen, bis sie vergehen. Und die Gefühle werden vergehen, auch wenn sich die Minuten während eines Gefühlssturmes ewig anfühlen können. Warum ist es notwendig darüber zu schreiben, wenn das eigentlich so einfach klingt? Warum wissen so viele Erwachsene nicht, dass Kinder Gefühle haben und dass diese da sein dürfen und wieder vergehen? Warum sind so viele unsicher im Umgang mit dem Thema Grenzen? Weil viele der heute Erwachsenen selbst keinen hilfreichen konstruktiven Umgang mit Grenzen und ihren Gefühlen erfahren und gelernt haben. Weil auch ihnen vermutlich häufig gespiegelt wurde, dass sie z.B. aus Böswilligkeit gegen Grenzen angerannt sind und mit ihren Empfindungen allein gelassen wurden (ins Zimmer schicken, „hör sofort auf zu weinen“,...)

Eltern, die auf diese Weise groß wurden dürfen mit ihren Kindern gemeinsam lernen, dass

•      Grenzen nicht das Wichtigste auf der Welt und auch nichts Schlimmes sind.

•      Gefühle kommen und wieder gehen.

•      Gefühle reguliert und gespürt werden können.

•      manche Dinge unveränderlich sind und dass sie das aushalten können.

 

Grenzen setzen – welche und wie

Manche Dinge sind jedoch durchaus beeinflussbar und das erkennen Kinder auch. Hier kann und darf dann verhandelt und kreativ nach Lösungen gesucht werden. Auf diese Weise lernen Kinder auch zu argumentieren und für sich einzustehen. Es ist ein Balanceakt für Eltern zu erkennen und zu kommunizieren, welche Grenzen unverrückbar und welche verhandelbar sind. Die Entscheidung darüber und die Verantwortung dafür liegt bei ihnen. Der Spielraum und auch die Grenzen erweitern sich natürlich mit zunehmendem A‍lter der Kinder. Wichtig ist, dass Eltern sich ausreichend Zeit nehmen und sich die Mühe machen, mit Bedacht Grenzen auszuloten, abzustecken und bei Bedarf anzupassen. Manchmal wirkt es, als müsste sofort eine Entscheidung getroffen werden. Meistens ist das jedoch nicht der Fall. Eine hilfreiche Antwort kann dann sein: „Ich höre deine Frage. Ich weiß es jetzt noch nicht. Ich werde mir Gedanken darüber machen und/oder mit dem anderen Elternteil besprechen und dir morgen meine Entscheidung mitteilen“. Zudem ist von Bedeutung, wie die Grenzen kommuniziert werden: annehmbarer sind sie, wenn sie klar und dabei freundlich ausgedrückt werden.

Wenn Kinder spüren, dass Grenzen nicht willkürlich oder gegen sie sondern sinnhaft gesetzt werden, haben sie keinen Grund, sie nicht zu respektieren. Sie vertrauen ihren Eltern und haben keinen Grund ihre Entscheidungen anzuzweifeln. Sie folgen ihnen weil es eine gute Idee ist, ihnen zu folgen und zu vertrauen. Das bedeutet nicht, dass sie mit jeder elterlichen Entscheidung einverstanden sein oder sie nachvollziehen können müssen. Ihre Gefühle dazu dürfen sie trotzdem haben und auch ausdrücken.

Die Grenzen der Kinder

Von besonderer Bedeutung ist außerdem, wie die Bezugspersonen auf die Grenzen der Kinder reagieren: auch ihre Grenzen müssen gesehen, anerkannt und respektiert werden. Kinder äußern ihre Grenzen klar indem sie sich z.B. wegdrehen, weinen, nein und „ich will nicht“ sagen. Wenn darüber einfach hinweggegangen wird, lernen sie, dass Grenzüberschreitungen okay sind. Wenn ihre Grenzen überschritten werden müssen (was im Grunde nur in Gefahrensituationen und im medizinischen Bereich stellenweise zwingend notwendig ist), sollten sich Eltern unbedingt darüber bewusst sein, dass sie gerade eine Grenze verletzen und den Kummer des Kindes darüber begleiten. Oft wird von Kindern in diesen Zusammenhängen erwartet, dass sie „tapfer“ und still hinnehmen, was mit ihnen gemacht wird. Das ist zum einen schädigend für ihre Entwicklung. Zum anderen brauchen sie ihr klares „Nein“, wenn sie sich in Situationen mit anderen Menschen klar abgrenzen sollen. Wenn es ihnen abgewöhnt wurde, weil sie spüren dass ein „Nein“ bei anderen nicht gut ankommt oder grundsätzlich übergangen wird, fehlt es ihnen, wenn sie es brauchen. Das bedeutet, Grenzüberschreitungen im Alltag so gut wie möglich zu vermeiden und wenn es nicht anders geht, liebevoll und wissend zu begleiten.

 

Abschließend möchte ich noch auf eine wie ich finde erfreuliche Entwicklung hinweisen. Ich nehme wahr, dass wir Menschen unsere eigenen Grenzen zunehmend wieder mehr wahrnehmen, achten und vertreten. Durch verschiedene Trends wie Selbstfürsorge, Entschleunigung und ein wachsendes Achtsamkeitsbewusstsein ist es zunehmend verbreitet, Pausen zu machen und nicht über seine Grenzen hinweg zu gehen. Es gibt auch Erkenntnisse darüber, dass wir dadurch sogar leistungsfähiger werden, als wenn wir pausenlos durchackern. Es gibt jedoch auch Vertreter, die den neuen Mut zur Verletzlichkeit und zum Menschlichsein als Verweichlichung und Jammerei abtun. Meine Hoffnung ist, dass sich die Menschen ihre Pausen, ihre Zeit für sich und die schönen Aspekte des Lebens jenseits von Leistung nicht mehr nehmen lassen.

 

Hanna Articus

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